Der Fall Krelle

Wie eine einstige SS-Größe an der Humboldt-Universität DDR-Wissenschaftler abservierte. Eine Erinnerung an Unerledigtes

  • Dieter Klein
  • Lesedauer: 8 Min.

Ein Licht der Hoffnung auf neue bessere Zeiten jenseits des Staatssozialismus und jenseits des Marktradikalismus schien 1989/90 aufzugehen. Die Implosion des Staatssozialismus hatte in Mittel- und Osteuropa einen riesigen Raum für eine sozial-ökologische, demokratische Zeitenwende geöffnet. Aber diese Chance wurde verspielt. So schrieben der amerikanische Rechtswissenschaftler Stephen Holmes und der Wiener Politikwissenschaftler Ivan Krastev, 1989 habe in Wahrheit «ein dreißigjähriges Zeitalter der Nachahmung» eingeleitet. Es war nur «Das Licht, das erlosch» - wie der Titel des Buches der beiden Autoren lautet.

Die gegenwärtige Verflechtung der Klima- und Umweltkrise, globaler sozialer Klüfte, der wachsenden Gefahr eines nuklearen Krieges und des Aufstiegs von Autoritarismus, Rechtsextremismus und Rechtspopulismus, verstärkt durch die Coronakrise, verweist auf die Reichweite der Fehlentscheidungen bei der Weichenstellung zu Beginn der 1990er Jahre.

Prof. Dieter Klein
Der Autor, Jahrgang 1931, ist Ökonom sowie Politikwissenschaftler und hatte einen Lehrstuhl an der Humboldt-Universität inne. Maßgeblich wirkte er am Forschungsprojekt »Moderner Sozialismus« mit. Dieter Klein ist Gründungsmitglied des Instituts Solidarische Moderne, gehört unter anderem dem Willy-Brandt-Kreis an und arbeitet für die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Intensiv beteiligte er sich an den Programmdebatten von PDS und Linkspartei.

Deshalb rumoren in jüngster Zeit stärker als zuvor kritische Neubewertungen der Entwicklung seitdem. Bücher wie «Tam Tam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung» von Daniela Dahn und Rainer Mausfeld gehören dazu. Zu dieser neuen kritischen Rückschau zählt auch der schmale Band von Jürgen Rambaum «Der Fall Wilhelm Krelle. Vom SS-Generalsstabsoffizier zum Abwickler an der Humboldt-Universität zu Berlin». Der Fall Krelle ist gewiss ein Extremfall. Aber seine hartnäckige Verdrängung bis heute seitens der Leitung der Humboldt-Universität bis zum Bundespräsidialamt ist in gewisser Weise exemplarisch für die Verweigerung einer Aufarbeitung des Starts in die deutsche Einheit, der folgenschwer bis heute wirkt.

Das Resultat der Tätigkeit Professor Wilhelm Krelles als Vorsitzender der Struktur- und Berufungskommission zur Erneuerung der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität und als ihr Gründungsdekan - die Entlassung von 90 Prozent aller dort in der DDR wissenschaftlich Tätigen nämlich - korrespondiert durchaus mit dem generellen Umgang der Machteliten der alten Bundesrepublik mit den Bürgerinnen und Bürgern der DDR. Von den insgesamt 782 Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern der Humboldt-Universität verloren 644, das heißt 82,6 Prozent, ihre Position. Darunter nicht wenige mit hohem internationalem Ansehen. Die Leipziger Elitenstudie von 2016 ergab, dass von insgesamt 1099 erfassten Führungspositionen in Ostdeutschland nur 249, d.h. nur 23 Prozent, von Ostdeutschen besetzt waren - 26 Jahre nach der Übernahme Ostdeutschlands in die Bundesrepublik.

Elitenwechsel - so lautet der Fachausdruck für die Entwertung der Qualifikationen und des Lebens einer ganzen Generation im Osten Deutschlands.

Auf den ersten Blick mochte Professor Krelles wissenschaftlicher Ruf ihn als geeignet für die Befreiung von DDR-Ökonomen von manchen ihrer Dogmen erscheinen lassen. Krelle (1916-2004) war Rockefeller-Fellow an der Harvard University und am Institut für Technologie Massachusetts, hatte eine Professur in Bonn inne, war sechsfacher Ehrendoktor und Mitglied der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, gehörte zum Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums und war Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes. Unter anderem von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften wurden seine Verdienste um die Entwicklung der neoklassischen Theorie und ihrer Mathematisierung gewürdigt, jener Theorie, die sich spätestens in der Großen Krise 2008/09 als Wegweisung in eine Sackgasse erwies.

Jürgen Rambaum hat in jahrelanger minutiöser Recherchearbeit eine andere Seite Krelles nachgezeichnet: seine Offizierslaufbahn in der Hitler-Wehrmacht und bei der SS - durchweg sachlich durch Tatsachen belegt. Seit dem 5. August 1944 war Krelle nach dem Besuch der Kriegsakademie und als Kader der elitären «Führerreserve» im Generalstab des XIII. SS-Armeekorps im Majorsrang als «Ic»-Offizier eingesetzt. Damit war er unter anderem für den militärischen Nachrichtendienst des Korps, für die sogenannte Spionageabwehr zuständig. Dem «Ic» war auch eine Gruppe Geheime Feldpolizei zugeordnet, eine Terrorgruppe unter anderem für das Aufspüren von Deserteuren und eingesetzt zur Partisanenbekämpfung.

Zuvor gehörte Krelle der berüchtigten 164. Infanteriedivision des XXX. Armeekorps an, die in Griechenland an Kriegsverbrechen wie Massakern an wehrlosen Zivilisten beteiligt war. Ab August 1943 war Krelle in der 305. Infanteriedivision des LXXXVI. Armeekorps (AK) als «Ia» der nach dem Divisionskommandeur ranghöchste Offizier. Er gehörte zum engeren Führungsstab bei Planspielen des Generalstabs des AK, unter anderem zur geheimen Vorbereitung auf eine trotz aller Siegsuggestionen befürchteten Landung der Alliierten in der Normandie.

Krelle hat stets bestritten, Mitglied der SS gewesen zu sein. Dorthin sei er aus der Wehrmacht «kommandiert», nicht etwa mit seiner Zustimmung «versetzt» worden. Als Studenten der Humboldt-Universität Mitte der 90er Jahre seine anrüchige Vergangenheit aufspürten und öffentlich machten, sah sich der Senat der Universität veranlasst, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Rambaum zitiert aus dessen Abschlussbefund die Feststellung, «dass Herr Prof. Krelle im August 1944 zu einem Generalkommando der Waffen-SS versetzt worden ist, ohne aus der Wehrmacht ausgeschieden zu sein, und dass er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht Mitglied der SS gewesen ist».

Rambaum verweist darauf, dass nicht entscheidend ist, ob Krelle Mitglied der SS war. Er hat seit August 1944 als SS-Sturmbannführer und 1. Generalstabsoffizier Ia, seit Januar 1945 in diesem Rang an der Spitze der 17. SS-Panzergrenadier-Division «Götz von Berlichingen» gewirkt. Rambaum dokumentiert die Aussage des ehemaligen SS-Obergruppenführers und Generals der Waffen-SS Hans Jüttner: «Ich erinnere mich an keinen Fall, in dem … ein Angehöriger der Wehrmacht gegen seinen Willen zur Waffen-SS versetzt wurde. … Wenn ich bei der Aufstellung von Waffen-SS-Einheiten Leute brauchte, meldete ich das dem OKW … . Von mir sind keine Leute angefordert worden, die nicht zur Waffen-SS kommen wollten.» Wie Rambaum belegt, unterzeichnete Krelle seine Befehle in der Regel: «Für das Divisionskommando - Der 1. Generalsstabsoffizier - Krelle - SS-Sturmbannführer.

Der Befehl Krelles vom 26. Januar 1945 steht als einer der Belege für den Geist, den er aktiv vertrat: »Es kommt jetzt wieder die deutsche Aufgabe zum Bewusstsein, die die europäische Kultur vor der asiatischen Steppe zu schützen hat … . In der Flut des bolschewistischen Vormarschs stehen deutsche Verbände, die erbitterten Widerstand leisten … Pflichterfüllung, wie sie der Reichsführer in seiner Neujahrsbotschaft fordert.« Heute beklagt Björn Höcke, AfD, die »brutale Verdrängung der Deutschen aus ihrem angestammten Siedlungsgebiet« durch die »anstürmenden Asiaten«, durch die »Afrikanisierung Europas« und die Islamisten und fordert, sich des »offiziellen Erinnerungszwangs« zur Auseinandersetzung mit Hitlerdeutschland zu entledigen, der sich zu »regelrechtem nationalen Selbsthass« entwickle.

Rambaum dagegen belegt, welch unheilvoller Geist noch am 23. März 1945 Krelles Divisions-Tagesbefehl zum Tod des Kommandeurs SS-Standartenführer Klingenberg durchdringt. Darin würdigte er diesen als »glühenden, fanatischen Vertreter der Idee unseres Führers und des Gedankens der SS, der seinen SS-Männern ein Vorbild in jeder Lage … gewesen ist … . Wir wollen in seinem Sinn weiter kämpfen und arbeiten und das vollenden, wofür er starb: unser Großdeutsches, Großgermanisches Reich und unsere 17. SS-Pz.-Gren.-Div. «Götz von Berlichingen». Für das Divisionskommando - Der 1. Generalsstabsoffizier - gez. Krelle - SS-Sturmbannführer.« Und aus Dokumenten des Bundesarchivs/Militärarchiv Freiburg zitiert Rambaum einen Befehl des Ia: »Betr.: Maßnahmen gegen Überläufer, Tgb. Nr. Ia Nr. 11/45: Bei Feigheit vor dem Feind ist von der Waffe Gebrauch zu machen.« Am 26. April 1945 noch lautete ein Befehl des Ia: »An SS-Feld.-Kp. 17 … Standgerichtsurteile sind grundsätzlich vor versammelter Mannschaft zu vollstrecken.«

Schließlich dokumentiert Jürgen Rambaum Gerichtsverfahren in der Bundesrepublik zu den Kriegsverbrechen, die von Angehörigen der Division Krelles noch in den letzten Kriegstagen begangen wurden. Erschießungen von erschöpften KZ-Häftlingen auf Transporten, Erschießungen von Zivilisten, die mit weißer Fahne eine kampflose Übergabe ihrer Gemeinden an die US-Truppen signalisieren wollten. So die Erschießung von drei Parlamentären, die am 3. Mai 1945 Bad Wiessee mit weißer Fahne übergeben wollten. Krelle als 1. Generalstabsoffizier wollte später von alledem nichts gewusst haben.

SS-Sturmbannführer Krelle, der sich in Tagesbefehlen als glühender Hitler-Anhänger darstellte, befand 170 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Sektion Wirtschaftswissenschaften als unzumutbar für die bundesdeutsche Demokratie, weil sie sich dem DDR-System nicht entzogen hätten. Rambaums Recherchen legen uns nahe, als unzumutbar zu empfinden, dass dieser Mann moralische Urteile über DDR-Wissenschaftler fällen durfte - nicht ganz fern von seinen früheren Maßstäben. In der Antrittsrede als Gründungsdekan der neuen wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät drohte er: »Kein Marxist wird seinen Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzen, solange ich hier das Sagen habe.«

Dem Hochschuldozenten Dr. Hans Schmidt hatte die FU Berlin in einem Gutachten zu seinem Arbeitsrechtsprozess bescheinigt, zu der kleinen, die wissenschaftliche Diskussion befruchtenden Schar von Ökonomen aus der ehemaligen DDR mit Anschluss an den Standard westlicher Universitäten zu gehören. Krelle blieb jedoch bei seinem Entlassungsbescheid. Daniela Dahn schrieb: »Dass die historischen Wurzeln jenes Antikommunismus, der Leitgedanke der Abwicklung war, völlig ausgeblendet blieben, konnte Schmidt nicht ertragen. Durch einen Sprung aus dem 13. Stock seines Wohnhauses nahm sich der seit langem Schwerbehinderte das Leben.«

In anderen Sektionen der Humboldt-Universität, z.B. in der Germanistik und in den Rechtswissenschaften, folgten die westdeutschen Vorsitzenden der Struktur- und Berufungskommissionen zwar ebenfalls zentral vorgegebenen Prinzipien, aber auch ihrem eigenen Anstand und Gewissen.

Die Leitung der Humboldt-Universität sah auch nach Bekanntwerden der von Krelle verschwiegenen Seiten seiner Vita keinen Grund, ihm die in Anerkennung seiner Verdienste um die marktwirtschaftliche Neuformulierung der Wirtschaftswissenschaften an der Universität verliehene Ehrendoktorwürde abzuerkennen. Rambaum hat dokumentiert, dass seine eigenen Interventionen gegen solche Unfähigkeit auch auf allen anderen Ebenen der Bundesrepublik erfolglos blieben.

»Warum lassen Sie mich damit nicht endlich in Ruhe?« hat Krelle 2003 in einem Interview mit der »Berliner Zeitung« geklagt. Es geht aber nicht um einen inzwischen verstorbenen alten Mann. Es geht um Vorzeichen eines drei Jahrzehnte währenden Zeitverlusts für die Zuwendung zu einer nachhaltigen solidarischen Gesellschaft. Rambaums Buch samt dem Dokumentenanhang ist dafür eine eindringliche Mahnung.

Jürgen Rambaum: Der Fall Wilhelm Krelle. Vom SS-Generalstabsoffizier zum Abwickler an der Humboldt-Universität zu Berlin. Verlag am Park, 128 Seiten, brosch., 15 €

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