Weggegangen, aber nicht angekommen

Die Journalistin Anna Prizkau hat ihr literarisches Debüt vorgelegt - unbestimmte Erzählungen über Fremdheit und Scham

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 4 Min.

»Ich mochte Yadvir, als er noch diesen Stoff um seinen Kopf getragen hatte. Er zeigte allen, dass er anders war. Ich war wie er auch anders, kam wie er auch aus einem anderen Land, aber ich hatte keinen Mut, keinen Turban, ich hatte Angst, es jemandem zu zeigen. Einfacher war es, alles zu verstecken, was anders war. Deshalb versteckte ich meine Eltern, meine alte Sprache.«

Die Ich-Erzählerin von »Fast ein neues Leben«, dem literarischen Debüt der Journalistin Anna Prizkau (»FAS«), hat ihr altes Leben hinter sich gelassen. Sie wächst in Deutschland auf, mit Macarena-Tanzen und Pommes im Schwimmbad, und niemand soll wissen, dass sie »nicht dazugehört«. Sie wünscht sich, »so auszusehen, so zu sprechen wie alle anderen«, und die Anpassung gelingt ihr schnell.

Das »alte Land« ist kaum präsent in ihrem Leben, und am liebsten würde sie es wohl vergessen, doch ihre Familie erinnert sie ständig daran. Wenn Freund*innen sie zu Hause besuchen wollen, sucht sie immer nach einer Ausrede. Denn sie würden den Akzent der Eltern hören und wüssten sofort die Wahrheit: Dass sie eine Fremde ist, eine »kleine Ausländerin«. Auch vor den Leser*innen versteckt die Erzählerin ihre Herkunft. Das »alte Land« wird nur manchmal kurz greifbar, etwa wenn an einer Stelle kurz an das Leben in der Kommunalka erinnert wird oder wenn ein Band mit Zwetajewa-Gedichten auf dem Nachttisch der Mutter liegt. Beim Namen genannt wird dieses Land aber nie.

Die in den Erzählungen beschriebenen Erlebnisse zeigen leider allzu deutlich, wie berechtigt die Furcht vor Ausgrenzung und Rassismus ist. Vom Sachbearbeiter auf dem Amt, der sie dafür lobt, wie gut sie Deutsch kann, bis zu den Nazis in der Straßenbahn, die die junge Frau zusammenschlagen, weil sie am Telefon in der »alten Sprache« gesprochen hatte - immer wieder wird sie rassistisch angegriffen. Die Angst vor solchen Angriffen ist schon in ihrer Kindheit präsent. Wenn sie ihre türkischen Freundinnen besucht, benutzt sie den Fahrstuhl nicht, denn in der Vorstellung der Kinder ist der ein böser Ort: »Dort lebt ein Mann, ein Nazi, der alle Türken tötet.«

Die zwölf Erzählungen handeln vom Gefühl der Fremdheit und Scham, das die Protagonistin von ihrer Kindheit bis ins Erwachsenenalter begleitet. Sie greifen Momente aus ihrem Leben heraus, die meist traurig sind und beim Lesen einen Kloß im Hals hinterlassen. Enttäuschungen und geplatzte Träume ziehen sich durch alle Geschichten: Geliebte werden verlassen, Freunde verraten, berufliche Hoffnungen zunichtegemacht.

Am schmerzlichsten sind die Schilderungen, in denen sichtbar wird, wie die Erzählerin unter ihrer Selbstverleugnung leidet. Um nicht daran erinnert zu werden, wie sehr sie sich verbiegt, um akzeptiert zu werden, lügt sie nahestehende Menschen an. In der Geschichte »Der Fackelläufer« fällt sie Yadvir, den sie so bewundert hatte, weil er sein Anderssein nicht versteckte, in den Rücken: »Ich ahnte, dass ich mich selbst betrog. Nachdem auch Yadvir zum Betrüger wurde, alles verraten hatte, was er war, nachdem er seinen Turban fürs Studium und für die Villa abgelegt hatte, konnte ich ihn nicht mehr ertragen.« Als sich die Gelegenheit ergibt, sorgt sie dafür, dass er in ihrem Umfeld in Ungnade fällt und aus ihrem Leben verschwindet.

Anna Prizkaus Sprache ist klar, die Sätze kurz und oft fast kindlich einfach. Trotzdem bleibt vieles unausgesprochen, wird nur angedeutet. Es wirkt, als wäre die Zurückhaltung und Selbstverleugnung der Erzählerin auch in das Schreiben selbst eingegangen. Wirklich öffnen will sie sich gegenüber den Leser*innen nicht. Doch das macht die Erzählungen auf gute Weise unbestimmt. So laden sie dazu ein, die geschilderten Erfahrungen mit den eigenen zu ergänzen und an die Stelle der Gedanken und Gefühle, die die Erzählerin nicht preisgibt, die eigenen zu setzen.

Anna Prizkau: Fast ein neues Leben. Erzählungen. Friedenauer Presse, 111 S., geb., 18 €.

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