Stephan Ernst wegen Mord am Kasseler Regierungspräsidenten verurteilt

Lebenslange Haftstrafe für REchtsextremist / Bewährungsstrafe für Mitangeklagten Markus H.

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 6 Min.

Im Verfahren um den Mord an Walter Lübcke und den versuchten Mord an Ahmed I. ist am Donnerstagvormittag ein Urteil gefallen. Stephan Ernst wurde des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten zu einer lebenslangen Haftstrafe mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt. Wegen des versuchten Mordes an Ahmed I. sprach ihn das Gericht frei. Markus H. verurteilte das Gericht wegen illegalen Waffenbesitzes zu einem Jahr und sechs Monaten, auszusetzen auf Bewährung.

Der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel erklärte in einer Vorbemerkung, dass »in dubio pro reo« entschieden worden sei: Wenn Zweifel an der Schuld des Angeklagten bestünden, dann könne er auch nicht verurteilt werden. Und beim Messerangriff auf Ahmed I. und bei der Tatbeteiligung von H. am Mord an Walter Lübcke hatte das Gericht erhebliche Zweifel, wie der Vorsitzende in der Urteilsbegründung mehrfach wiederholte.

Sagebiel erklärte weiterhin, das Gericht könne nur angeklagte Taten aburteilen. »Es kam nicht darauf an, rechtsradikale Netzwerke aufzudecken«, da dies nicht Teil der Anklageschrift gewesen sei. An die Familie Lübcke gewandt, die als Nebenklägerin auftrat, sagte Sagebiel: »Wir wissen, dass wir Ihren Verlust kaum ermessen können.« Darüber zu urteilen, was in der Mordnacht vom 1. auf den 2. Januar 2019 geschehen ist, sei »schwierig« gewesen. Der Senat müsse ein faires Verfahren ermöglichen und unvoreingenommen urteilen.

Walter Lübcke war auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen-Istha bei Kassel erschossen worden. Der langjährige Neonazi Stephan Ernst war kurz nach der Tat anhand von DNA-Spuren am Hemd des Toten als mutmaßlicher Täter ermittelt worden. Er gestand die Tat mehrmals und belastete seinen Kasseler Kameraden Markus H. schwer. Die Anklage hatte auf psychischer Beihilfe gelautet. Die Bundesstaatsanwaltschaft hatte in ihrem Plädoyer neun Jahre und acht Monate Haft für H. gefordert. Die Familie des Toten war von seiner Mittäterschaft überzeugt und forderte lebenslange Haft mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld – wie auch bei Ernst.

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Der Vorsitzende Richter und sein Kollege Christoph Koller erklärten ihre Entscheidung vor allem mit der mangelhaften Glaubwürdigkeit von Ernst, der insgesamt drei verschiedene Geständnisse abgelegt hatte. Besonders das zweite und dritte Geständnis seien beide »in sich« nicht plausibel gewesen. Der Senat stützte sich in seinem Urteil daher auf das erste Geständnis vom 25. Juni 2019, in dem Ernst die alleine Schuld auf sich genommen hatte. Erst später behauptete er, dass er die Tat mit seine Kamerad Markus H. geplant und auch durchgeführt habe.

In seiner ersten Einlassung kurz nach der Tat hatte Ernst erzählt, wie er zusammen mit H. auf einer Bürgerversammlung von Lübcke gewesen war, auf der dieser ein neues Flüchtlingsheim vorstellte. Dort hatte Lübcke auf Provokationen hin gesagt: »Es lohnt sich, in diesem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen.« Ernst schilderte, dass ihn diese Worte aufgebracht hätten. H. filmte die Szene und stellte einen Ausschnitt des Videos online. Daraufhin erhielt Lübcke tausende von Hassnachrichten. Ernst berichtete, wie er sich von dem Moment an immer mehr auf Lübcke fokussierte, diesen für alle möglichen Straftaten von Flüchtlingen und Muslimen im In- und Ausland verantwortlich machte, mit H. Schießtrainings absolvierte, mehrmals zum Haus von Lübcke fuhr und ihn schließlich erschoss.

Sagebiel erklärte, diese Erzählung sei im Gegensatz zu den späteren Aussagen »erlebnisfundiert« gewesen und decke sich mit weiteren Erkenntnissen. Das zweite und dritte Geständnis hätten wenig »Aussagekonstanz« erkennen lassen und seien situativ angepasst worden, zum einen aufgrund von Aussagen im Prozess und Berichten in den Medien, zum anderen aber auch, wenn dem Angeklagten klar wurde, dass seine Gegenüber ihm nicht glaubten. Das habe weitere Widersprüche erzeugt.

Zur möglichen Mittäterschaft erklärten die Richter, die Schilderung von Ernst, wie sich H. am Tatort bewegt haben soll, sei nicht glaubwürdig. Auch weitere Schilderungen zur gemeinsamen Abreise und zur gemeinsamen Planung der Tat seien nicht plausibel. Darüber hinaus wurde um den Tatzeitpunkt herum eine Whatsapp-Nachricht von H.s Handy abgeschickt, das Handy aber nicht in der Nähe des Tatorts eingeloggt werden. Zudem gibt es Hinweise, dass H. kurz vor der Tat an seinem Computer beschäftigt war. Auch die psychische Beihilfe verwarfen die Richter. Unter anderem konnten die Richter nicht feststellen, dass Ernst durch H. in den Schützenverein eingetreten sei. Auch sei nicht erwiesen, dass H. von dem geplanten Angriff wusste oder mit Ernst gemeinsam in Istha war.

An den Nebenkläger Ahmed I. gewandt sagte Sagebiel: »Wir wissen, dass Sie schwer verletzt worden sind.« Der Angreifer habe sehr wahrscheinlich aus ausländerfeindlichen Motiven gehandelt. »Es kann sein, dass Ernst der Angreifer war, aber wir wissen es nicht und können ihn deshalb nicht dafür verurteilen.«

Ahmed I. war am 6. Januar 2016 von hinten mit einem Messer attackiert worden. Er trägt heute noch Schäden davon. Damals war auch Stephan Ernst ins Visier der Polizei geraten, die Spur wurde aber nicht weiter verfolgt. Nach dem Mord an Walter Lübcke wurde bei einer Hausdurchsuchung bei Ernst ein Messer gefunden. Es wurden darauf zwar keine direkten DNA-Spuren von Ahmed I. gefunden, die Spuren wiesen aber Merkmale auf, die auf I. hindeuteten. Später präsentierte Ernst eine Rechnung für ein baugleiches Messer, das er erst nach der Tat gekauft hatte.

Der Vorsitzende Richter erklärte, es gebe keine tragfähigen Beweisstücke, dass Ernst der Angreifer war. Weder sei das Messer eindeutig die Tatwaffe, noch hätten Zeugen Ernst eindeutig beschreiben können, noch konnte eines der Fahrräder bei Ernst als Tatfahrzeug identifiziert werden.

Ahmed I. erklärte im Anschluss an den Prozess in einem Statement: »Ich bin sehr traurig, weil ich in Deutschland zum zweiten Mal Verrat erleben musste.« Die Beweise gegen Stephan Ernst reichen aus seiner Sicht aus. Sein Vertreter Alexander Hoffmann sagte, die Quittung für das neu gekaufte Messer sei auf einem USB-Stick gefunden worden. Verschlüsselte Dateien auf dem Stick seien nicht ausgewertet worden. Es habe den Anschein gemacht, dass das Gericht sich eine lange Beweisaufnahme habe sparen wollen, so der Jurist weiter. Ob sein Mandant Revision einlege, wollen sie in den nächsten Tagen besprechen. Das sagte auch der Nebenklagevertreter der Familie Lübcke, Holger Matt.

Die Verteidigung von Ernst äußerte sich nicht zu einer möglichen Revision. Die Bundesanwaltschaft hingegen kündigte bereits an, gegen das Urteil Revision einlegen zu wollen.

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