Als sie buddelten
Alte Gräber, neue Kriege und geheime Wünsche: Simon Stones großes Filmdrama »Die Ausgrabung«
Wer macht eigentlich Geschichte? Also zum einen, wessen Geschichte wird erzählt oder ist es wert, erzählt zu werden - und zum anderen, von wem wird sie erforscht und der Nachwelt überliefert? Mit diesen von einer kritischen Geschichtswissenschaft immer wieder aufgeworfenen Fragen beschäftigt sich auf faszinierende Weise der britische Film »Die Ausgrabung«, der ab diesem Freitag auf Netflix zu sehen ist.
Im Zentrum des stimmungsvollen Filmdramas steht Basil Brown, der 1939 im ostenglischen Sutton Hoo in Suffolk bei einem spektakulären archäologischen Fund eine Grabstelle aus dem 7. Jahrhundert freilegte, was die bis dato gültige Sicht auf die angelsächsische Geschichte jener Zeit veränderte.
Basil Brown gab es wirklich. Nur war der damals 51-jährige Autodidakt kein Archäologe oder Wissenschaftler. Basil Brown schrieb zwar im Lauf seines Lebens mehrere Bücher vor allem zum Thema Astronomie, die er auch einfachen Leuten zugänglich machen wollte, er hatte aber keinen höheren Schulabschluss, geschweige denn akademische Weihen. Brown war ein einfacher Ausgraber, wie das in dem Film genannt wird, und hatte schon sein ganzes Leben lang bei archäologischen Projekten als nicht weiter qualifizierte Arbeitskraft malocht, vor allem für das regionale Museum von Ipswich.
Brown, großartig gespielt von Ralph Fiennes, gräbt für die verwitwete Landbesitzerin Edith Pretty (Carey Mulligan) aus der ländlichen Upperclass deren Felder auf der Suche nach archäologischen Fundstücken um. Dabei entdeckt er eine mehr als 1000 Jahre alte angelsächsische Grabstätte, bestehend aus einem gut erhaltenen Langboot und zahlreichen wertvollen Kunstgegenständen. Sehr schnell kommt die Wissenschaftsaristokratie aus dem Britischen Museum in London ins ländliche Suffolk und vertreibt Basil Brown recht harsch von seiner Fundstelle. Hier müsse jetzt die erste Garde der archäologischen Experten ran, heißt es sinngemäß. Der Entdecker der einzigartigen Fundstücke, der mit viel Herzblut und gegen Widerstände seiner Zunft gegraben hatte, solle gefälligst seine Sachen packen und verschwinden.
»Die Ausgrabung« zeigt eindrücklich die Wirkmächtigkeit sozialer, ökonomischer und kultureller Ausschlussmechanismen der britischen Klassengesellschaft von vor 80 Jahren, aber auch, wie Hierarchien im Wissenschaftsbetrieb funktionieren. Dass Basil Brown schließlich doch an dem Fundort weiterarbeitet und nicht einfach abserviert wird, hat wiederum mit der Intervention seiner Arbeitgeberin Edith Pretty zu tun.
Simon Stone, der auch Filme gemacht hat (wie Henrik Ibsens »Die Wildente«, 2015), aber vor allem seit Jahren als international renommierter Regisseur Theaterstücke inszeniert (unter anderem 2018 »Die griechische Trilogie« am Berliner Ensemble), setzt die mehrere Monate dauernde Ausgrabung als kammerspielartiges Ereignis in Szene. Der bevorstehende und schließlich im Lauf der Filmhandlung beginnende Zweite Weltkrieg fungiert als eine Art Hintergrundrauschen für die Ausgrabung, an der gut ein halbes Dutzend Personen beteiligt sind. Darunter ist auch die junge Mittzwanzigerin und später bekannte britische Archäologin Margaret Guido, deren Neffe (John Preston) die 2007 auf Englisch erschienene Romanvorlage des Films verfasste. Im Vordergrund stehen aber Basil Brown, sein Kampf um Anerkennung und das eher freundschaftliche Verhältnis zur Landeigentümerin, die schwer erkrankt ist und sich um ihren Sohn sorgt.
Zu dem Kind unterhält Brown schließlich ein fast väterliches Verhältnis. Die zugezogenen Wissenschaftler und Archäologen wiederum ringen ebenfalls um Status und Anerkennung, es entspinnen sich aber auch romantische und nicht nur heterosexuelle Begehrlichkeiten, was damals wegen der rigiden autoritären Moralvorstellungen unausgesprochen blieb und geheim gehalten wurde.
An seine Sehnsüchte und Träume zu glauben, den Versuch zu unternehmen, sie zu verwirklichen und nicht nur den gesellschaftlichen Zwängen zu entsprechen, wird zum motivischen Dreh- und Angelpunkt dieses kunstvoll inszenierten Films, in dem plötzlich immer öfter Kriegsflugzeuge über die friedvoll wirkenden englischen Bilderbuchlandschaften donnern. Dabei finden sich in der autoritären Klassengesellschaft einige Schlupflöcher, um seine Träume nicht aufgeben zu müssen. Immer wieder sind es kleine solidarische Gesten der Figuren, die im starren gesellschaftlichen Korsett mehr möglich machen, als es den Anschein hat. So lässt eine junge Wissenschaftlerin ihren schwulen Ehemann seine Bedürfnisse ausleben und gibt ihn quasi frei. Die Gutsherrin hilft Basil Brown, sodass der seinen Traum der Ausgrabung nicht aufgeben muss.
Wobei all diese kleinen stillen Widerstandshandlungen gegen die geltende Moral und die Klassenschranken nur kurzfristig Wirkung zeigen. Basil Browns Anteil an der Entdeckung des legendären Schiffsgrabs von Sutton Hoo, heute ein touristischer Ausflugspunkt, blieb lange unerwähnt. Nicht zuletzt dieser Film macht seine Geschichte sichtbar. Aber auch die Unausweichlichkeit des Krieges beendet nicht wenige Hoffnungen der kleinen, sich im Lauf der Monate zusammenraufenden archäologischen Gemeinde.
Simon Stones knapp zweistündiger Film ist ein dicht erzähltes und mitunter bildgewaltiges Drama, das verschiedene persönliche Schicksale vor dem Hintergrund der detailfreudig inszenierten Zeitgeschichte geschickt miteinander verwebt. Die Geschichte des großen unbekannten Herrschers, der in Sutton Hoo vor über tausend Jahren aufwendig begraben wurde, kontrastiert dabei mit der Erzählung über den proletarischen Basil Brown und dessen Kampf um einen Platz in der Geschichte.
Die Vergänglichkeit menschlichen Lebens und die Sehnsucht, diesem Leben einen Sinn jenseits vorgegebener Regeln abzuringen, ohne dabei gleich den großen, alles infrage stellenden Ausbruch zu wagen, ist die eigentliche Geschichte, die hier erzählt wird. Das könnte leicht ins Kitschige abrutschen, aber Simon Stone gelingt es, diesen Stoff mit einer leisen, unaufdringlichen Poesie umzusetzen und das Begehren seiner Figuren substanziell und echt wirken zu lassen. Das verleiht diesem im Grunde recht konventionellen, aber sehenswerten Film eine besondere Qualität.
»Die Ausgrabung« auf Netflix
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