121 Kinder in der Obhut der Kirche missbraucht
Gutachten legt Umfang sexueller Übergriffe gegen Minderjährige im Bereich des katholischen Erzbistums Berlin seit 1946 offen
Die Zahlen des unabhängigen Gutachtens über Fälle von sexuellem Missbrauch im Erzbistum Berlin schockieren, aber sie überraschen nach den vielen Missbrauchsfällen in der Katholischen Kirche nicht: Insgesamt mindestens 121 junge Menschen waren demnach in den vergangenen 73 Jahren im Bereich des Erzbistums von sexuellem Missbrauch durch Geistliche betroffen. Darüber hinaus sei von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer auszugehen, heißt es in dem Gutachten. Aus den Personalakten sei zu entnehmen, dass alleine 19 der Opfer Hinweise auf weitere betroffene Kinder und Jugendliche gaben. Zum Erzbistum gehören neben Berlin auch der zentrale und der nördliche Teil von Brandenburg, Vorpommern sowie die Stadt Havelberg in Sachsen-Anhalt.
Die Anwaltskanzlei Redeker Sellner Dahs, mit Sitz in Bonn und weiteren Standorten in Berlin, Brüssel, Leipzig, London sowie München, war mit der Erstellung des unabhängigen Gutachtens durch die Kirche beauftragt worden. Bei der Untersuchung sei auch eine Vielzahl von weiteren Missständen deutlich geworden, heißt es. Mitunter hätten diese Defizite die Verhinderung von sexuellem Missbrauch durch Kleriker erschwert, die Aufklärung verhindert und notwendige Schlüsse für Intervention und Prävention unmöglich gemacht. Insbesondere die hierarchische Organisationsstruktur des Erzbischöflichen Ordinariats stellten einen »Hemmschuh« für Aufklärung, Intervention und Prävention dar, so die Verfasser weiter.
Dem Gutachten zufolge ist der Großteil der Übergriffe in den 1950er und 1960er Jahren passiert. Aber dies bedeute nicht unbedingt, dass zu diesem Zeitpunkt die meisten Taten geschehen sind, wie die Verfasser betonen. Denn viele Betroffene können erst nach Jahren, wenn nicht Jahrzehnten darüber sprechen, was ihnen angetan wurde - und in vielen Fällen dann auch erst Anzeige erstatten.
Laut Gutachten waren mindestens 61 Geistliche in der Zeit von 1946 bis 2019 am sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen beteiligt. 51 von ihnen konnten den Angaben zufolge identifiziert werden. Dies waren hauptsächlich im Bistum tätige Priester und Ordensmitglieder. 28 der Beschuldigten sind schon verstorben. Die Daten von zwei Beschuldigten fanden keinen Eingang in die Auswertung, da sie an dem vom Jesuitenorden betriebenen Canisius-Kolleg in Berlin tätig waren, weshalb das Erzbistum Berlin keine Personalakten über sie führte.
Der Berliner Erzbischof Heiner Koch, seit 2015 im Amt, erklärte, er übernehme die Verantwortung, »wo vertuscht oder nicht angemessen mit Schuld umgegangen wurde, wo Menschen im ›System Kirche‹ das Offensichtliche nicht wahrhaben wollten oder systematisch weggeschaut haben«.
Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki, von 2011 bis 2014 Erzbischof in Berlin, steht seit Monaten in der Kritik, weil er ein Gutachten zur Verantwortung hochrangiger Vertreter der Katholischen Kirche bei der Verfolgung von Fällen sexuellen Missbrauchs in seinem Bereich zurückhält. Woelki nennt dafür rechtliche Bedenken.
Die Opferinitiative »Eckiger Tisch« kritisierte, dass das Gutachten weder Verantwortliche noch Täter benenne. Auch sei mit den Betroffenen nicht gesprochen worden. Unter dem Vorwand des Schutzes des Persönlichkeitsrechts und der angeblichen Gefahr der Retraumatisierung der Opfer werde verhindert, dass diese »voneinander erfahren, sich austauschen und vernetzen können«. Die Öffentlichkeit werde daran gehindert, sich ein Bild von den Vorgängen machen zu können. So werde das Bemühen um Aufklärung und Aufarbeitung ad absurdum geführt.
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