Einblicke in ein berstendes Land

Für den Foto- und Interviewband »Talking To Americans« reisen zwei Journalisten einmal quer durch die USA

  • Lars Fleischmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Gewinnend - anders kann man die Pose des Mannes mit dem auffällig nach oben gezwirbelten Schnauzbart, dem freien Oberkörper und dem wunderbar undefinierten Bauch nicht bezeichnen. Felix Francesco ist sage und schreibe 74, lebt in Brooklyn, diente im Vietnamkrieg und ziert das Cover des Doppel-Interview-Foto-Bandes »Talking To Americans« des deutschen Journalisten Thomas Venker und des kanadischen Fotografen Jonathan Forsythe.

19 Tage reisten die beiden von New York bis nach San Francisco. Venker und Forsythe führen eine arbeitende Freundschaft: Seit mehr als einem Jahrzehnt kommen beide immer wieder zusammen. Venker, der zwischen 2000 und 2014 Chefredakteur des Pop- und Jugendmagazins »Intro« war, hat nicht nur einmal Fotos beim talentierten Kanadier bestellt. Auch bei seinem Anschlussprojekt, dem Online-Kultur-Magazin »kaput-mag«, vertraut er auf Forsythes Dienste. Ein großes Reiseprojekt war dennoch eine besondere Erfahrung; besonders aufgrund des sehr straffen Zeitplans, denn die USA sind groß: »Erst wenn man die Strecken mit dem Auto fährt, merkt man, wie unfassbar riesig das Land ist.« Meist seien die beiden, so Thomas Venker, 500 Kilometer und mehr am Tag gefahren - jeden Tag. Dazwischen hieß es essen, schlafen und ebenjene Interviews führen, die wir jetzt lesen dürfen. Wobei »Talking To Americans« nicht unbedingt als Interviewband verstanden werden soll: »Es sind Gespräche.«

Diesen Begriff leiht sich Venker, der sich für die textliche Ebene des Projektes verantwortlich zeichnet, beim US-amerikanischen Journalisten und Chronisten Louis »Studs« Terkel. Mitte des letzten Jahrhunderts begann Terkel nicht nur mit Profis des Mediengeschäftes, mit Musiker*innen und TV-Persönlichkeiten zu reden, sondern fuhr durchs Land und führte dort Gespräche, wo sonst keiner hinging: In Slums, in Reservate der indigenen Bevölkerung; mit Subalternen aller Couleur. Terkel erkannte bei seiner Arbeit schnell, dass klassische Interviewtechniken, wie sie selbst heute noch an Journalistenschulen gelehrt werden, keine besonders interessanten Ergebnisse erzielen, wenn sie bei »Normalsterblichen« angewendet werden. Statt Expertise abzufragen, zielte er auf Erfahrungen des Alltäglichen, auf Lebensgeschichten ab.

Bis auf wenige Ausnahmen - etwa Cornelius Harris der Techno-Urgestein-Formation »Underground Resistance« - wurden auch keine Interviewtermine vorab vereinbart. Das Duo Forsythe/Venker stellte sich stattdessen an besuchte Plätze und sprach Fremde an, diskutierte mit Fußnagelpflegerinnen oder quetschte Security-Personen aus. Das funktionierte nicht immer. Trotzdem schafft man es immer wieder, interessante Menschen zu finden, die Zeit und Lust haben, aus ihrem Leben zu berichten. So etwa das angelnde Pärchen Loraine und Tony in Philadelphia. Mit lockeren analogen Schnappschüssen unterstrichen, erfährt man wie es ist, in Philadelphia zu leben, welche Bereiche der Stadt der brüderlichen Liebe besser nicht betreten werden sollten - und dass man nicht lange bohren muss, um Wahrheiten zu erfahren, die eigentlich keiner aussprechen möchte. Zum Beispiel, dass man als Schwarzer in den USA die Polizei eher nicht ruft: »Blacks handle their own business.« Das galt auch schon vor dem Jahr 2020 - die Gespräche entstanden im Sommer 2017: Donald Trump war zu dem Zeitpunkt noch nicht lange im Amt, weswegen dieser auffällig selten thematisiert wird. Und doch spürt man an allen Ecken, dass es knirscht und kracht, dass die amerikanische Gesellschaft dem Bersten nahe ist.

Ob es eigentlich Unterschiede bei den Mentalitäten gebe innerhalb des großen Landes? »Naja, Menschen werden durch die Umstände, in denen sie leben, beeinflusst. Demnach ist es im Süden, zum Beispiel in Memphis, sehr rough. Andererseits sind Amerikaner allesamt generös, durchgängig aufgeschlossen und freundlich.« Dies gelte sowohl in Washington wie in Detroit oder auch in Roswell, wo sich Venker und Forsythe mit einem Ufo-Jäger unterhalten. Ebenso verschlägt es sie in die vornehmlich von Künstler*innen bewohnte Planstadt Marfa im Süden von Texas und nach Chicago. Insgesamt kommt man auf 25 Destinationen und 46 Gespräche.

Was auffällt: Thomas Venker schafft es durch kleine Tricks immer wieder die Partner*innen einzuwickeln. Wenn er über Kulinarik redet (»Das ist mir gar nicht aufgefallen, dass das häufiger vorkommt. Aber, klar: Es ist ein gutes Thema; dazu hat jeder etwas zu sagen.«) oder immer wieder Feedback aus Deutschland gibt, beschert das stets die Bereitschaft zur Offenheit.

Und auch der New Yorker Felix Francesco scheint sich gut aufgehoben. Diese Entspannung kann man nicht nur in den Gesprächen nachlesen, sondern auch auf dem Porträt erkennen. Dennoch: Man gewinnt auf knapp 280 Seiten einen einzigartigen Einblick in ein Land, das eine Weltmacht war und diesen Status nach und nach zu verlieren droht. Gerade hinsichtlich der Präsidentschaft Joe Bidens lohnt sich die Lektüre - denn eines ist klar: Die USA wieder in die Spur zu bekommen, ist eine große Aufgabe. Unlösbar scheint sie nach der Lektüre dennoch nicht.

Thomas Venker / Jonathan Forsythe: »Talking to Americans« Volume 1: Photographs & Volume 2: Interviews, Ventil Verlag, Interviewband in englischer Sprache, brosch., 148 und 132 S., 39,00 €.

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