Wer herrscht über uns?

Über Entfremdung, Objekte, Subjekte und Corona

  • Karl-Heinz Dellwo
  • Lesedauer: 8 Min.

Alle von uns, die wenigstens ein bisschen Marx gelesen haben, kennen ein paar Grundbegriffe, zum Beispiel die Entfremdung: Der Mensch, der der Maschine unterworfen ist, ist entfremdet. Aber auch der Kapitalist, der den Gesetzen der Ökonomie unterworfen ist. Nur verspürt dieser an seiner Entfremdung eine Lust, denn er erhebt sich durch Geld, Besitz, Status, grenzenlosen Konsum und größere Handlungsräume sozial über all die anderen Menschen. Das nennt man auch Distinktion.

Der Arbeiter wiederum weist den Auszubildenden in seine Schranken, der Vorarbeiter den Arbeiter, der Abteilungsleiter den Vorarbeiter und der Manager den Abteilungsleiter, die Finanzinvestoren die Manager und der unüberwindbare Zwang im Kapitalismus nach ökonomischer Effektivität und Effizienz den Makro- wie den Mikro-Ökonomen. Man sieht: Alle sind Objekt von irgendetwas, das über ihnen steht, und alle oder viele suchen ein Subjekt, das sie unter sich zwingen können. Nicht nur im Produktionsprozess, sondern in allen gesellschaftlichen wie privaten Verhältnisse. Das zeigt sich in der Hierarchie im Geschlechterverhältnis und auch als brutales Kennzeichen einer rassifizierten Welt.

Natürlich macht das Durchreichen von Herrschaftsverhältnissen von oben nach unten die Menschen nicht gleich. Ob jemand flüchten muss, ob jemand zur Surplusbevölkerung gehört, permanent neuer Versklavung und Missbrauch ausgesetzt ist, oder in den reichen Staaten im Westen mit 400 Euro im Monat auskommen muss oder ob jemand bei 40 000 Euro Ausgaben am Tag auch nicht ärmer wird - das markiert den Unterschied zwischen Welten. Die einen müssen sich um das tägliche Leben und Überleben Sorgen machen, während die andern allenfalls über Langeweile klagen. Und der Kapitalismus hat nach seiner gewaltsam weltweiten Etablierung erreicht, dass die Menschen diesen Mist für alternativlos halten. Doch dieser Zustand ist verbrecherisch, muss bekämpft werden.

Der Unterschied heute zum vorangegangenen Jahrhundert, vorangegangenen Jahrhundert, vorangegangenen Jahrhunderten ist, dass die Unterwerfung und Ausplünderung der Welt nicht mehr allein ein Hegemon, der sich sattsam »freie« nennenden westlichen Welt quasi automatisch zufließt. Auch China hat eine beträchtliche ökonomische Potenz, Indien ist auf dem Weg zur globalen Wirtschaftsmacht, viele andere Staaten des Südens eifern ihnen nach. Die Folgen der kapitalistischen Ökonomie weltweit wie Klimakrise, Massenarbeitslosigkeit, aber auch die Ausbreitung von Pandemien setzen dem Wahn des »ständigen Wachstums« inzwischen Grenzen. Die Möglichkeit, politischen, sozialen und kulturellen Dissens im Innen durch Ausdehnung nach außen zu neutralisieren, verflacht sich. Armut und Reichtum, von Zufriedenheit und Elend sind nicht mehr durch geografische und nationale Grenzen sorgfältig getrennt, sondern allüberall und gleichzeitig. Im Negativen ist der Kapitalismus auch egalitär. Er kennt - auch wenn er sich das politisch zur Herrschaftsstabilisierung und zur Spaltung der Menschheit so lange es geht gerne zu Nutze macht - im Kern keine Trennung in Nationen, Ethnien etc. Vor dem Kapital sind in letzter Instanz alle gleich, alle Objekte der Ausbeutung und Vernutzung.

Jahrzehntelang hat die Linke in der Welt gegen den Neoliberalismus gestanden und steht auch heute noch da, wenngleich mit stumpfen Schwertern. Den Älteren von uns ist die Realgeschichte dieser Bewegungen noch präsent, die sporadisch, aber auch machtvoll waren: die Aufstände der Zapatisten im südlichen Mexiko zu Beginn der 90er Jahre, die Entstehung des Weltsozialforums in Porto Alegre 2001, all die Kämpfe, in die Menschen so viel Energie hineinfließen ließen, ob in Seattle, Genua, Heiligendamm oder Hamburg. Es waren Versuche, der neoliberalen Globalisierung eine andere Globalisierung entgegenzustellen, die von Ressourcen- und Menschenschutz bestimmt ist, von Solidarität als Bedingung der Entwicklung eines neuen Menschheitsgeschlechts.

Man kann nicht sagen, dass die Antiglobalisierungsbewegung wirkungslos blieb. Gesellschaftlich wirksam war sie vor allem im kulturellen Bereich, was in modifizierter Form auf die Balance der kapitalistischen Ökonomie zurückschlug. Stichworte: Ökologie und Klimaschutz. An der Durchrationalisierung der kapitalistischen Produktion unter dem einzigen Kriterium Effektivität und Effizienz einer kostensenkenden Produktion änderte sich jedoch nichts. Im Gegenteil: Der innere Zwang der kapitalistischen Ökonomie feierte für sich einen Erfolg nach dem anderen - und zertrümmerte eine Sicherheit nach der anderen für die seinem System Unterworfenen.

Die Brüche im System produzieren nicht seine Infragestellung, sondern offenkundig eine Art kapitalismuskonformer Gegenrevolution. In den alten westlichen Staaten zeigt sich keine Kraft der Transformation in eine neue - aus meiner Sicht notwendig kommunistische - Lebensgrundlage. In den neu aufstrebenden Weltmächten ist die Vorstellung einer Transformation der gesellschaftlichen Lebensgrundlage hin zu einer gänzlich anderen vielleicht als Ideologie vorhanden, jedoch nicht als kollektive Feuerstelle, zu der sich Menschen hingezogen fühlen und aktiv werden. Aber auch dort destruiert die mit dem technologischen Fortschritt verbundene, ins Entgarantierte abgeschobene Freisetzung von menschlicher Arbeitskraft die sozialen Strukturen. Auch diese Gesellschaften - heute vielleicht noch intakt - sind Gesellschaften auf Abruf.

Die Armen und Verelendeten, die Flüchtenden und die unter Kriegen Lebenden und Leidenden, jene, die von den Sorgen des nackten Überlebens gejagt werden, haben keinen Raum, grundsätzlich über eine neue Welt nachzudenken. Wir haben an ihnen keine Forderungen zu stellen. Die Frage der Änderung der Welt lässt sich nicht mehr an glorifizierte Befreiungsbewegungen in den Armutszonen des Systems abschieben. Sie fällt an uns zurück.

Ist unsere Lage aussichtslos? Die Dinge, die passieren, sind nicht mehr unter Kontrolle. Gleichzeitig sind sie von historischer Bedeutung. Die Erfahrung mit dem Coronavirus wird wahrscheinlich tiefere Spuren in der Menschheit hinterlassen als die politischen Ereignisse der Gegenwart. Das gleiche gilt für die Klimakrise. Die Ereignisse mehren sich, die uns alle dominieren, egal in welchem divergierenden Ausmaß. Auch hier stellt sich die Frage nach der Souveränität der Menschen. Im kapitalistischen Einordnungsprozess sind sie in der Mehrheit längst zu versachlichten Figuren umgewandelt, denen alles vorgegeben wird. Inzwischen betrifft dies aber eben auch die Herren, nicht nur die Knechte. Daher scheint es plausibel, nicht mehr von Herren und Knechten zu sprechen sondern nur noch von Knechten, die Knechte befehligen.

Der Virus zeigt sich souveräner als jede Regierung. Der Klimawandel ebenso. Mit dem Glauben an einen »grünen Kapitalismus« wird man dagegen nicht ankommen. Und kein vernünftiger Mensch kann sich Corona-Leugnern und Querfrontidioten anschließen. Klaus Klamm stellte jüngst im »ajour«-Magazin fest: »Gesellschaftliche Opposition hat die Todesdrohung bitterernst zu nehmen, die vom Virus ausgeht. Weil ein beachtlicher Teil der Menschen zwischen Gedanken- und Rücksichtslosigkeit oszilliert, sind die staatlichen Verordnungen alternativlos.« Wahr ist: Entweder wird Corona geleugnet oder allen staatlichen Maßnahmen hofiert. Und wenn ständig vom notwendigen »Digitalisierungsschub« gesprochen wird, dann wissen wir aus Erfahrung, was dies bedeutet: Die Überwachung der Gesellschaft wird ausgebaut. Und die Arbeitsplätze werden der Rentabilität unterworfen, garantierte Stellen in ungarantierte umgewandelt, wenn nicht gar ganz abgeschafft. Mit Verweis auf den Gesundheitsschutz wird die nächste Drehung in der Spirale von Ausbeutung und Unterwerfung vollzogen.

Man darf sich nicht täuschen lassen. Die finanziellen Absicherungen, die der Staat mehr oder weniger großzügig seinen Bürgern in dieser Krise zukommen lässt, sind nicht der Ausdruck dafür, dass die Politik zum Gemeinwohl - was eigentlich ihre Aufgabe wäre - die Herrschaft über alle gesellschaftlichen Prozesse, einschließlich der kapitalistischen Ökonomie, eingenommen hätte. Die von ihr zur Abschwächung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie verteilten Gelder stammen nicht mal aus einer Umverteilung, sondern aus einer Neuverschuldung, die von der Mehrheit der Bevölkerung irgendwann zurückgezahlt werden muss. Der Staat tritt als Gesamtkapitalist auf, um das System zu schützen. Dazu muss der Einzelkapitalist mit seinem singulären Interesse auch mal Einschränkungen und Verluste hinnehmen.

Wir befinden uns in einem historischen Umbruch. Historische Umbrüche haben ihre Zeit. Den Menschen fällt es oft schwer, den Umbruch in ihrer Zeit zu erkennen. Im Nachhinein ist immer alles leichter erklärt. Aber dieses Nachhinein wabert eigentlich schon unter uns. Die grundsätzliche Krise des Kapitalismus ist seit Jahrzehnten erkennbar, Erkennbar ist auch, dass erneut offener Faschismus drohen könnte. Deshalb können wir nicht nur einzelnen Momenten der kapitalistischen Wirklichkeit unversöhnlich gegenüberstehen, sondern müssen dem System als Ganzes unversöhnlich gegenübertreten.

»Alle müssen gehen«, las ich vor kurzem. Das ist politisch erst einmal eine gute Parole. Alle müssen gehen, die diese Verhältnisse fortsetzen wollen. Alles muss auf den Tisch, alles steht zur Debatte. Das betrifft die Perversion, dass Einzelne und deren Familien über mehr Vermögen verfügen als das Gros der Menschheit. Das betrifft die Produktion von Gütern, die gesellschaftlich und politisch kontrolliert werden müsste, aber in privater Hand ist. Das betrifft die Eigentumsfrage an Produktionsmitteln und Maschinen und die Frage, ob natürliche Ressourcen privatisiert werden dürfen. Das betrifft die Frage der politischen Repräsentanz, die bürgerliche Demokratie, die sich heute als Verwaltung von als alternativlos gesetzten ökonomischen Zwängen präsentiert und Entmündigung der Masse bedeutet. Alle müssen gehen, die diese Verhältnisse aufgestellt haben. Und wir brauchen - hier stimme ich dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben zu - einen Stillstand, zumindest eine Verlangsamung, um die Welt umbauen zu können, bevor sie über uns oder unter uns zusammen bricht.

Die alte Welt ist verloren. Sie hat selber dafür gesorgt. Die Zeit ist reif für Veränderung. Die Frage nach dem revolutionären Subjekt stelle ich nicht. Aber: Wenn wir es nicht sind, sind es die anderen auch nicht.

Karl-Heinz Dellwo, Jg. 1952, ehemaliges RAF-Mitglied, arbeitet seit seiner Entlassung aus der Haft 1995 als Dokumentarfilmer und Publizist; 2009 war er Mitgründer des LAIKA-Verlages und ist seit 2019 Mitbetreiber der Galerie der abseitigen Künste. Mehr zum Thema von Dellwo unter non.copyriot.com/subjektlose-herrschaft.

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