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»Es geht um die Zeit nach Putin«
Kerstin Kaiser zum Nawalny-Urteil, zum Verhältnis der EU zu Moskau und zur Linken in Russland
Das Urteil gegen Alexej Nawalny hat scharfe Proteste in der EU hervorgerufen. Die Beziehungen zwischen beiden Seiten waren ohnehin bereits gespannt. Ist das Verhältnis überhaupt noch zu kitten?
Zur Eiszeit in den Beziehungen zwischen Russland und der EU kam es lange vor dem jüngsten Urteil gegen Alexej Nawalny. Die jahrelange Sanktionspolitik oder die Versuche, Ursachen und Folgen des Zweiten Weltkriegs zu verdrehen, sind Beispiele dafür. Ein hämisch-feindseliger Grundton dominiert offizielle Äußerungen an die Adresse Russlands, die Echos überlagern sich.
Die Diplomslawistin leitet seit 2016 das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau. Zuvor war sie unter anderem in verschiedenen Funktionen und als Landtagsabgeordnete der Linkspartei tätig. Mit Kerstin Kaiser sprach für »nd« Uwe Sattler.
Übrig sind wenige Gesprächskanäle wie der bilaterale »Petersburger Dialog« zwischen Deutschland und Russland, dessen deutsche Seite dieser Tage die Krise beraten hat. Grundsätzlich fehlt in der EU die Bereitschaft, Interessen und Probleme Russlands und seiner Bevölkerung als solche zu akzeptieren. Für die Beziehungskrise wird Wladimir Putin verantwortlich gemacht, der seinerseits allein »den Westen« beschuldigt. Eine gefährliche Spirale.
Die Reaktion des Westens auf das Urteil war vorauszusehen. Hat Putin die Eskalation bewusst in Kauf genommen?
Russlands Politik ist doch ebenso berechenbar für den Westen wie die von EU und Nato für Putin. Der hiesigen Macht geht es um Russland, es geht in ihrem Verständnis um Ruhe und politische Kontrolle in dem riesigen Land. Das fragile Gleichgewicht zwischen Oligarchengruppen in Wirtschaft und Staat, zwischen den verschiedenen Machtzentralen - Militär, Geheimdienste und Regierung - sowie regional aufstrebenden Gouverneuren und Personen, die in Zukunft das Bild in Russland prägen werden, soll erhalten werden.
Es geht längst um die Zeit nach Wladimir Putin: Er will das Land in seinem Interesse machtstrategisch zusammenhalten. Die unausgesprochene Ansage an die Bevölkerung war bisher: Ich garantiere ein Mindestmaß an sozialer Stabilität und Sicherheit im Alltag und für das Land - und ihr stört dabei nicht allzu sehr und bleibt bei euren regionalen, örtlichen und Gruppeninteressen. Proteststimmungen und Alexej Nawalny passen dabei natürlich nicht.
Gilt Nawalny daher als »Intimfeind« Putins? Ist der Oppositionelle damit nicht überschätzt?
Als politische Figur sicher. Nawalny ist Aktivist und Blogger, kaum jemand in Russland sieht in ihm einen Präsidenten. Die Rolle als Gegenspieler Putins machte ihn zum Populisten. Eine politische Agenda über Korruptionsbekämpfung hinaus ist unklar. Als ausgewiesener Neoliberaler und Nationalist geht es ihm nicht darum, das Wirtschaftssystem zu verändern oder sozial gerechtere Politik zu machen. Beim »Smart voting« für Putins Sturz nutzte er politische Kräfte bis ganz rechts. Und ja, alle Verfahren und Urteile gegen ihn seit 2012 sind tagespolitisch motiviert, auch das jüngste.
Leider sind das auch offizielle Reaktionen aus EU und aus Deutschland. Die EU benutzt Alexej Nawalny für ihre Zwecke, da geht es um wirtschaftliche, geopolitische und Machtinteressen. Er braucht die EU und ihre Reaktionen, um wahrgenommen zu werden. In Russland verstärken sich Anzeichen dafür, dass Nawalny auch aus dem Innern verschiedener Machtzentralen Unterstützung bekommen hat und bekommt. Sonst ließe sich kaum erklären, dass er bis zum Attentat monatelang Bewährungsauflagen ignorieren und Wahlkampf machen konnte - beobachtet, aber unbehelligt.
Im September sind in Russland Duma-Wahlen, es stellt sich die Frage, ob sich Teile der Opposition und auch Gegner Putins aus dem Machtapparat hinter Nawalny scharen und das Wahlergebnis beeinflussen könnten. Das macht ihn schon zu einem relevanten »Störfaktor« für die jetzige Administration. Im Westen übersieht man dabei gern, dass die auch kommunistische Gouverneure absägte, populäre linke Konkurrenten ruinierte oder ins Gefängnis brachte.
Es ist zu erwarten, dass nun die Sanktionen gegen Moskau verschärft werden. Wie hart treffen diese Russland?
Die Sanktionen hatten und haben Folgen. Natürlich musste man sich wirtschaftlich umstellen. Die Sanktionspolitik hat enorme Investitionen in Landwirtschaft und verarbeitende Industrie erzwungen. In diesem Übergang gab und gibt es wirtschaftliche Schwierigkeiten. Im Augenblick sind zunehmende wirtschaftliche Probleme Russlands auch auf die Covidkrise zurückzuführen. Letztlich jedoch sind die politischen Ziele der Sanktionspolitik nicht erreicht worden.
Wie positioniert sich Russlands Linke - wenn es sie denn überhaupt noch gibt - in dem Konflikt?
Die Kräfte, die zur linken Opposition zählen, sind programmatisch auf der Suche. Die aktuellen Proteste unterstützen sie mit eigenen Forderungen. In der Kommunistischen Partei vollzieht sich ein Generations- und demnächst ein Führungswechsel. Die Partei »Gerechtes Russland« sucht in Richtung Duma-Wahl gerade das Bündnis mit kleineren Parteien. Aktivistinnen der »Linksfront« um Sergej Udalzow arbeiten ausdauernd regional, auch kleinere Gruppen, Strömungen, Verbände, oft mit regionalen Abgeordneten der Opposition. So zersplittert die Linken auch sind, sie eint die Position, dass allein das Ziel der Nawalniki »Putin muss weg« keine Lösung der Probleme bringt, sondern in die Sackgasse führt.
Fakt ist, Nawalny braucht für seinen Erfolg auch die Linke und ihr Protestpotenzial. Die Linken wollen sich aber nicht vereinnahmen lassen. Ihnen geht es nicht um den Austausch von Machtkartellen, sondern um mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit. Das findet eine Basis in der Bevölkerung. Laut Umfragen teilt fast ein Drittel der Bevölkerung eher sozialdemokratische Ansichten und Werte, immer noch elf Prozent sehen sich den Kommunisten nah.
Das ganze Interview: www.die-zukunft.eu
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