Hisbollah polarisiert den Libanon
Ermordung eines prominenten politischen Aktivisten wirft Fragen an die radikale Gruppierung auf
»Warum jetzt? Warum auf diese Art, wo die Hisbollah die politische Szene dominiert?« Die Fragen, die der Journalist Anthony Samrani in der Tageszeitung L’Orient-Le Jour stellte, stellen sich derzeit viele in Libanon. »Die schiitische Partei befindet sich in einem paradoxen Moment. Noch nie war sie so mächtig im Libanon und in der Region, aber noch nie war ihre Dominanz so umstritten.«
Der Stein des Anstoßes: Am vergangenen Donnerstagmorgen wurde der prominente schiitische Publizist Lokman Slim erschossen im Süden des Libanon aufgefunden. Slim war mit der deutschen Filmemacherin Monika Borgmann verheiratet und galt als vehementer Kritiker der Hisbollah. Er kritisierte regelmäßig die autoritäre Politik der radikal-islamistischen Organisation in den schiitischen Gemeinden und brachte schiitische Kritiker mit internationalen Gegnern der in vielen Ländern als terroristisch eingestuften »Partei Gottes« zusammen. Kurz nach dem Bekanntwerden des Mordes erscholl im Libanon ein mannigfacher Chor an Stimmen, die die Hisbollah als Urheber sahen. Deren Führer wiesen offiziell jegliche Beteiligung an dem Verbrechen zurück.
Die Hisbollah stand in Libanon schon zuvor in der Kritik. Teile der christlichen Bevölkerung des Libanon geben der Hisbollah Mitverantwortung für die Wirtschaftskrise des Landes und die doppelte Explosion im letzten August im Hafen von Beirut. Die Rolle, die die Hisbollah bei der ihr oft unterstellten Kontrolle des Hafens wirklich spielt, und inwiefern sie von der Lagerung der gefährlichen Substanzen gewusst hatte, bleibt umstritten. Eine Untersuchung der Hintergründe der Explosion droht ergebnislos zu verlaufen. Der pompös inszenierte Todestag des iranischen Generals Kassem Soleimani am 5. Januar dieses Jahres, als die Hisbollah eine Statue von Soleimani in Beirut errichten ließ, löste eine große Kontroverse aus. Mit der Aktion demonstrierte die 1985 gegründete Organisation ihre Treue zum Iran. Ironischerweise »bezichtigt die Partei andersdenkende Schiiten, die es wagen, die Partei zu kritisieren, als Agenten ausländischer Botschaften und als Verräter«, beobachtet der Journalist Mohammad Yassine.
Auch aus der schiitischen Basis kommt Kritik an der Hisbollah, die derzeit 13 Abgeordnete in der Nationalversammlung stellt. »Diese Kritik kommt aus Kreisen, die traditionell die Rhetorik der Partei unterstützen. Sie kritisieren, dass die Hisbollah nichts zur Bekämpfung der Korruption im Libanon getan hat und dass sie seit ihren Interventionen in Syrien und im Irak zu einer regionalen Miliz geworden ist«, meint Samrani. Im Januar hatte der der Hisbollah nahestehende Intellektuelle Kassem Kassir, dessen Bruder eine prestigeträchtige Position im Apparat der Islamischen Republik Iran innehat, in einem Fernsehinterview gefordert, die Partei solle sich von Iran distanzieren. Später musste er unter Druck seine Aussage zurücknehmen. »Die große Frage in schiitischen Kreisen dreht sich derzeit darum, ob der Libanon ein Heimatland oder ein Konfliktfeld ist«, schreibt die libanesische Journalistin Jeanine Jalkh.
Die Ermordung Lokman Slims könnte die in der Hisbollahfrage gespaltene Zivilgesellschaft weiter polarisieren. Slim hatte in einem Artikel im Oktober auf das Dilemma aufmerksam gemacht, dass die Forderung der internationalen Gemeinschaft nach »Stabilität« im Libanon im Widerspruch zur Tatsache stehe, dass die Hisbollah der »stabilisierende« Akteur sei. Gleichzeitig wachse das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber einer politischen Klasse, »die das Land in ein wirtschaftliches und soziales schwarzes Loch gestürzt hat. Wie kann der Libanon stabilisiert werden, wenn seine Bevölkerung auf der Flucht ist und sein soziales und demografisches Gefüge derart unter Druck steht?«
Libanesische Blogger äußerten mit Bezug auf frühere Attentate Zweifel an der Aufklärung des Mordes an Slim: »Wir werden nie erfahren, wer diese Menschen getötet hat«, textete ein Blogger namens Najib auf Baladi.com.
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