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Antirassismus nur rhetorisch
Die NSU-Morde und der Anschlag in Hanau - Parallelen und Unterschiede.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) sprach am 4. März 2020 bei der staatlichen Trauerfeier für die neun Opfer des Anschlags in Hanau von »Rassismus«. Ebenso erklärte der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), dass die Opfer »keine Fremden« gewesen waren. Diese staatliche Rhetorik war das ganze Jahr über zu hören. Auch zum Jahrestag am 19. Februar 2021. Vierzehn Jahre sind zwischen dem letzten rassistischen Mord des NSU-Kerntrios und den Hanauer Morden vergangen. Anders als damals musste dieses Mal nicht um die Zugehörigkeit der Opfer zur Gesellschaft gestritten, noch musste darum gerungen werden, die Tat als rassistisch einzuordnen. Etwas hat sich hierzulande also verändert.
Die Unterschiede
Der erste Unterschied liegt in der Tat in Hanau an sich begründet. Weder bei der konkreten Planung noch bei der direkten Umsetzung gab es eine staatliche Beteiligung, etwa durch vom Verfassungsschutz eingesetzte V-Leute. Erst später ließ sich eine indirekte Verantwortung von Behörden nicht mehr verbergen - nach kritischen Nachfragen von Überlebenden und Angehörigen der Toten: Warum störte sich kein*e einzige*r Polizist*in daran, dass Ende März 2018 am helllichten Tag ein mit einem Schnellfeuergewehr bewaffneter Mann im Tarnanzug vor dem Jugendzentrum in Kesselstadt stand und die dortigen Jugendlichen bedrohte? Warum wurden stattdessen Letztere von den Beamt*innen schikaniert und nicht ernst genommen? Es gab noch viele weitere solcher vermeintlichen Fauxpas der Sicherheitsbehörden. Deutlich wird damit, wie tief verwurzelt institutioneller Rassismus noch immer ist. Zweitens ist in der Öffentlichkeit rechte Gewalt heute präsenter als noch in den Nullerjahren. Bedingt wird das durch eine nicht enden wollende Kette von rechten Gewalttaten sowie durch das Wissen um den nur teilweise aufgeklärten NSU-Komplex und den gewaltsamen Tod nicht-weißer Menschen in Polizeigewahrsam. Auch journalistische Enthüllungen wie die Hannibal-Recherche oder zu den NSU-2.0-Drohschreiben trugen dazu bei. Was dabei auch wieder auf den Tisch kam: die Verstrickung staatlicher Stellen in den Aufbau rechter Strukturen und deren Vorhaben.
Der dritte ist der wohl wichtigste, entscheidendste Aspekt. Er ist ausschlaggebend für ein punktuell verändertes Kräfteverhältnis in der Gesellschaft. Er ist Ausdruck eines Kampfes der vergangenen Jahrzehnte: die Selbstorganisierung der Betroffenen rassistischer Gewalt. In mühseliger Arbeit haben diese sich Stück für Stück eine gesellschaftliche Sprechposition erkämpft. Der Prozess der Selbstermächtigung ist auch ein Prozess der Offenlegung von Geschichte.
Indem sich Betroffene - und nicht nur sie - zusammentun, indem jüdische, migrantische, nicht-weiße, antirassistische, antifaschistische und generationsübergreifende Erfahrungen zusammenkommen, Allianzen bilden, die Dominanzkultur herausfordern und neue Horizonte aufmachen, verschiebt sich auch das Kräfteverhältnis in Ansätzen zu ihren Gunsten. Die neue Konstellation hat unumgänglich auch zu all jenen öffentlichen Bekundungen geführt, die die Steinmeiers und Bouffiers nach dem Anschlag abgaben. Sie hatten schlichtweg keine andere Möglichkeit, als sich genau so zu äußern. Sie mussten erkennen: Bis zu einem gewissen Grad haben sich die Spielregeln in diesem Land verändert.
Die Parallelen
Rhetorik und Praxis sind zweierlei. Die Familien sind beispielsweise auf sich selbst gestellt, wenn es darum geht, Wohnungen zu suchen, um dem Täterhaus und dem Tatort zumindest in dieser Hinsicht den Rücken zuwenden zu können. Auch gibt es keinerlei nachhaltige materielle Unterstützung für die Familien. Diese, organisiert in der Initiative 19. Februar, erklärten dazu am 18. August 2020: »Es ist eine Frage der Gerechtigkeit und - neben der lückenlosen Aufklärung - die Grundlage dafür, dass die Familien die soziale Sicherheit bekommen, die sie in die Lage versetzen, in Ruhe zu trauern und zu versuchen, einen Umgang mit dem Unfassbaren zu finden.«
In seiner Rede vom 4. März 2020 auf dem Marktplatz in Hanau sprach der Bundespräsident vom Wert des Lebens. Er hielt fest: »Unser Staat hat die Pflicht, dieses Recht zu schützen. Dafür muss er mehr tun. Dafür muss er alles tun.« Er versprach viel. Alle versprachen viel. Am Ende taten sie wenig.
Das sagt uns indirekt: Würden staatliche Behörden wollen, dass es anders liefe, es würde anders laufen. Und warum läuft es nicht anders? Weil immer noch unterschieden wird in ein »wir« und ein »die«. Rassismus richtet sich schließlich nicht gegen die Gesellschaft - zumindest nicht gegen den Teil der Gesellschaft, der zählt. Es sind die anderen, die zwar aufgrund der veränderten Spielregeln heute nicht mehr als »Fremde« bezeichnet werden dürfen, was sie aber in den Augen vieler noch längst nicht zu einem gleichberechtigten Teil dieser Gesellschaft macht.
Die Verschiebungen
Was ist, wenn sich allein die Form der Politik geändert hat, ihr Inhalt aber gleich blieb? Es gibt heute einen rhetorisch geschulten und vermeintlich sensiblen Umgang, doch die Politik des Rassismus existiert weiterhin. Und müsste dann nicht auch die Frage gestellt werden, wie viel Rassismus steckt in all den formal antirassistischen Versuchen der politischen Repräsentanz?
Echte Teilhabe gewähren
Um künftig Gewalt zu verhindern, muss nicht mehr Geld für Sicherheitsbehörden ausgegeben werden. Wäre dies die Lösung, so hätte sie schon vor vielen Jahren gefruchtet. Rassismus ist ein soziales und kulturelles Problem. Es muss demnach das nachgeholt werden, was seit 1945 nur bedingt vollzogen wurde: die Entnazifizierung der Behörden und Institutionen und der Ausbau eines antirassistischen Bildungs- und Kulturbereichs. Indem auch anderswo Läden gegen das Vergessen, wie der der Initiative 19. Februar, gefördert werden; nicht, um überall über Hanau diskutieren zu können, sondern um sich überall darüber austauschen zu können, wie eine Lösung für das gefunden werden kann, was zum Anschlag in Hanau geführt hat. Schafft zwei, drei, viele antirassistische Orte der Begegnung und des Austauschs! Dies ist nur möglich, indem mit den Betroffenen und nicht an ihnen vorbei nach neuen Wegen gesucht wird. Indem ihnen eine Entscheidungsgewalt zuteil wird.
Timo Dorsch begleitet die Initiative 19. Februar seit ihrer Gründung durch Angehörige und Unterstützer*innen im März 2020.
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