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Töten mit selbst gebauten Sprengsätzen
UN-Bericht verzeichnet sinkende Zahl ziviler Opfer in Afghanistan seit 2013 - gezielte Tötungen nehmen zu
Am Sonntag ging in den sozialen Medien in Afghanistan ein verstörendes Video viral: Eine bewusstlose Frau liegt verletzt am Straßenrand, daneben stehen zwei schreiende Kinder im Vorschulalter mit Splitterwunden im Gesicht. Wie sich herausstellte, handelte es sich um die Großmutter der beiden Kinder, die mit ihnen unterwegs war, als neben ihnen ein Sprengsatz explodierte. Er galt offenbar einem vorbeifahrenden Polizeifahrzeug. Zwei der Insassen wurden getötet, zwei weitere Menschen verletzt, so ein Sprecher des Innenministeriums in Kabul. Die Frau und die beiden Geschwister, ein Junge und ein Mädchen, überlebten. Die Kinder waren offenbar nur leicht verletzt. Aber das Trauma dieses Erlebnisses dürfte bleiben.
Am gleichen Tag wurden bei einem ähnlichen Anschlag in Laschkargah, Hauptstadt der Südprovinz Helmand, ein Mensch getötet und 14 weitere verletzt, »darunter Zivilisten«, wie die örtlichen Behörden verlautbarten. Das ist ein Hinweis darauf, dass auch dieser Angriff den Sicherheitskräften galt. Am Montag wurde in Kabul ein Straßenjunge getötet, als ein Sprengsatz in einem weiteren Polizeifahrzeug hochging. Auch drei Polizisten verloren dabei ihr Leben.
Mitarbeiter der unabhängigen Forschungsorganisation Afghanistan Analysts Network (AAN) in Kabul zählten in der Woche davor 16 Tote sowie 13 Verletzte bei ähnlichen Anschlägen. Eine Woche früher waren es acht Tote und zehn Verletzte. Vor allem in Kabul sind solche Anschläge inzwischen an der Tagesordnung. Das bestätigt auch der Jahresbericht über den »Schutz von Zivilisten in bewaffnetem Konflikt« - vulgo Zivilopferbericht - für 2020, veröffentlicht am Dienstag in Kabul von der Afghanistan-Mission der Vereinten Nationen (Unama).
In der Provinz Kabul, zu der neben der Hauptstadt 15 ländliche Distrikte gehören, seien »gezielte Tötungen« im vorigen Jahr die Hauptursache für zivile Kriegsopfer gewesen. Kabul war mit 871 Toten und Verletzten auch die Provinz mit den meisten Zivilopfern. Der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans (AIHCR) zufolge, die bereits Ende Januar ihren eigenen Jahresbericht 2020 vorstellte, wurden im Vorjahr bei gezielten Mordanschlägen landesweit 1078 Zivilisten getötet und 1172 weitere verletzt. Das seien 26 Prozent aller Zivilopfer und ein Anstieg um 169 Prozent gegenüber 2019 gewesen.
Hauptmittel solcher Anschläge sind selbst gebaute Sprengsätze, die in Fahrzeuge geschmuggelt werden, zunehmend auch Haftminen. Solch eine Magnetmine tötete Anfang Februar vier Mitarbeiter des Ministeriums für Dorfentwicklung, als sie morgens gemeinsam mit dem Auto zur Arbeit fahren wollten. Unabhängige Sicherheitsanalysten verzeichneten 2020 in Kabul-Stadt 138 solche gezielten Sprengstoffanschläge, 72 Prozent mehr als 2019 und drei Viertel davon gegen Sicherheitskräfte oder zivile Regierungsangestellte. Das waren fast 20 pro Monat. Angesichts der Zahlen von Januar und Februar könnte es im laufenden Jahr noch schlimmer kommen.
Es gibt auch gezielte Erschießungen von Motorrädern aus. Auf diese Weise wurden Mitte Januar zwei Richterinnen umgebracht, ebenfalls als sie am Morgen in ein Auto stiegen.
Gleichzeitig behaupten die Taliban, sie seien für diese Anschläge nicht verantwortlich. In ihrem eigenen Jahresbericht über Zivilopfer nennen sie sich selbst generell nicht als Verursacher von Zivilopfern. Das ist unglaubhaft, denn sie haben sich in der Vergangenheit durchaus zu Anschlägen bekannt. Sie haben auch ein Interesse daran, Andersdenkende vor ihrer zu erwartenden Rückkehr an die Macht einzuschüchtern, und haben das verschiedentlich auch offen gesagt. Das schließt nicht aus, dass einige dieser Anschläge auf das Konto des afghanischen Ablegers des Islamischen Staates oder des CIA-geförderten afghanischen Geheimdienstes gehen.
Der Trend zu individuellem Terror hat auf den ersten Blick paradoxe Auswirkungen. Unama verzeichnete 2020 mit 8820 Zivilopfern (3035 Tote und 5785 Verletzte) nämlich die niedrigste Zahl an zivilen Toten seit 2013 und einen Rückgang gegenüber 2019 von 15 Prozent. Das ist ein Ergebnis des Truppenabzugsabkommens zwischen den USA und den Taliban vom Februar 2020. Darin hatten sich die Taliban nach eigener Aussage verpflichtet, neben den ausländischen Truppen auch keine Städte mehr anzugreifen. In der Tat gab es seither keine großen Autobombenanschläge oder Angriffe von Selbstmordkommandos auf Regierungseinrichtungen. Dass es nun keine Anschläge mit massenhaften Opfern mehr gibt, beeinflusste deren Gesamtzahl.
Das bedeutet nicht, dass der Krieg weniger intensiv geführt würde. Die Kampfhandlungen haben sich in die ländlichen Gebiete verlagert, die selbst für afghanische Medien oft nicht erreichbar sind. Insgesamt wurden laut UN seit Jahresbeginn durch Kämpfe fast 10 000 Menschen vertrieben; 2020 waren es insgesamt 400 000.
Da die afghanische Regierung die eigenen Verluste für geheim erklärt hat - sicherlich nicht, weil sie geringer geworden sind -, kann man davon ausgehen, dass der Krieg in Afghanistan 2020 wie in den beiden Vorjahren wieder der folgenschwerste weltweit war. Laut Global Peace Index des Institute for Economics & Peace verzeichnete das Land nach den letzten vorliegenden Daten 30 Prozent aller Kriegsopfer weltweit. Die materiellen Kriegsschäden betrugen demzufolge 51 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
*Thomas Ruttig ist Codirektor des Afghanistan Analysts Network (AAN) (Kabul/Berlin)
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