Bodenlose Befindlichkeiten

Christian Berkel schickt «Ada» mit Forrest-Gump-Effekt durch die deutsche Geschichte seit 1945

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 4 Min.

Hier sind die Leute netter zu ihren Hunden als zu ihren Kindern«, heißt es in Christian Berkels autofiktionalem Roman »Der Apfelbaum« (2018) über das Deutschland der Nachkriegszeit. Diesen Satz sagt die neunjährige Ada, älteste Tochter von Berkels Mutter Sala Nohl, kurz nachdem die beiden 1954 aus dem Nachkriegsexil in Argentinien in das Heimatland der Mutter zurückgekehrt sind.

Wenn sie auch einige Eckdaten mit Berkels realem älteren Bruder Peter (der im Buch nicht vorkommt) teilt, ist Ada die einzige fiktive Hauptfigur in »Der Apfelbaum«; dem Roman, in dem Berkel die Geschichte seiner Eltern, vor allem die seiner Mutter Sala, erzählt. Aber auch die von deren Eltern, dem anarchistischen Berliner Schriftsteller Johannes Nohl und der Ärztin und Widerstandskämpferin gegen das spanische Franco-Regime, Iza Prussak.

Nun hat Berkel seiner fiktiven Schwester Ada einen eigenen Roman gewidmet, der diese wechselvolle Familiengeschichte als Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts fortsetzt. Und in dem die Erzählerin und Hauptfigur passenderweise mit einer Ohrfeige in Deutschland begrüßt wird, denn in diesem Land ist beinah alles verboten - besonders aber Fragen nach der Vergangenheit. Es dauert eine Weile, bis der Roman »Ada« sich aus den Erzählsträngen und Rekapitulierungen des Vorgängerbuchs löst, dadurch lässt er sich allerdings auch eigenständig lesen - wobei die Lektüre des Vorgängers durchaus lohnenswert ist.

Das Mädchen Ada wird kurz vor Kriegsende im Februar 1945 in Leipzig geboren, nachdem ihre Mutter - Tochter einer polnischen Jüdin und eines nichtjüdischen Deutschen - knapp dem Todestransport aus dem französischen Lager Gurs nach Ausschwitz entgangen ist, um ausgerechnet in Deutschland das Kriegsende zu erleben. Adas Vater, der Wehrmachtsarzt Otto Berkel, befindet sich in russischer Kriegsgefangenschaft, aus der er erst Jahre später entlassen werden sollte, um schließlich anstatt seiner großen Liebe Sala eine andere Frau zu heiraten. Denn zu diesem Zeitpunkt hatten sich Sala und Ada schon aus dem scheinheiligen Täterland nach Argentinien abgesetzt, um freilich auch dort - wie überall - nie richtig dazuzugehören.

Zurück in Deutschland wird zwar die kleine Familie am Ende doch noch vereint, aber nur, um im Wirtschaftswundereigenheim mit dem Rest des Landes am eigenen Schweigen über die Vergangenheit zu ersticken. Virtuos beklemmend, wenn auch nicht völlig klischeefrei, schildert Berkel diese - ganz besonders für Frauen - bedrückende deutsche Dumpfheit, in der die verdrängte Gewalt sich alsbald an der bohrenden Ahnungslosigkeit der Kinder entlädt.

Bei Ada ist es aber nicht nur die Zerrissenheit zwischen Judentum und Katholizismus (ihre Mutter hatte sie in Argentinien taufen lassen), Deutschsein und weltweiter Heimatlosigkeit, dieses umfassende Geteilt- und »Halb«sein, das sich für Berkel schon im »Apfelbaum« immer nach »kaputt« anhörte. Für Ada kommt noch hinzu, dass sie im Gegensatz zum bald auf den Plan tretenden Brüderchen - das in Anlehnung an den Schock, den sein Auftauchen für Ada bedeutet, konsequent »Sputnik« genannt wird - berechtigte Zweifel daran hat, wer ihr Vater ist.

Wenig verwunderlich also, dass Berkel als Rahmenhandlung für den Roman eine über Jahre hinwegreichende Psychotherapie wählt, in der Ada unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer, also dem symbolträchtigen Ende wenigstens dieser Teilung, endlich über all das sprechen kann, worüber ihr Leben lang geschwiegen wurde. Interessant an dieser Konstruktion ist vor allem, dass sie auch ein Eingeständnis darüber enthält, welche Form der Befreiung zuvor nicht funktioniert hat: die Revolte der 68er, die Ada in vollen Zügen - und das ist natürlich durchaus buchstäblich zu verstehen - durchlebt. So unvermeidlich dieser Aufstand der Jugend aus den Trümmern des Schweigens erscheint, so sehr reproduziert er letztlich wieder dieselben verdrängten Konflikte.

Es ist dem großen Erzähltalent des bekannten Schauspielers Berkel anzurechnen, dass diese bleischwere Thematik fast durchgehend zugleich schwebend leicht erscheint. Ein besonderes Erlebnis ist auch das Hörbuch, in dem der Sprecher Berkel keine geringere Souveränität an den Tag legt als der Autor. Mit heiterer Hand gelingt es beiden, ihrer Geschichte nicht nur tiefsinnige, sondern auch äußerst humorvolle Pointen abzugewinnen. Weinen und Lachen in stetem Wechsel. Am Ende entsteht das vielschichtige Porträt einer Frau, das gerade durch ihre permanente Außenseiterposition einen Spiegel für die bodenlosen Befindlichkeiten der alten Bundesrepublik abgibt.

Allerdings unterläuft Berkel hier bisweilen auch auch ein gewisser Forrest-Gump-Effekt: am Tag des Mauerbaus 1961 die Unschuld verloren, 1967 auf der Schah-Demo noch Benno Ohnesorgs letzte Worte zu seiner schwangeren Frau gehört, vom Pariser Mai dann direkt nach Woodstock. Etwas ermüdend, aber sei‘s drum. Woodstock, dieser eine kurze Moment in der Weltgeschichte, als es im Pop für einen kurzen Augenblick so aussah, als könnte die Gegenkultur einen echten Antipoden zur Kapitallogik darstellen - was natürlich schon damals eine Illusion war. Damit endet dieses eindrückliche Panorama des 20. Jahrhunderts. Oder fast. Denn am Ende deutet sich wohl noch eine weitere Fortsetzung an. Vielleicht wird in dieser ja endlich der bislang seine eigene Geschichte nur von ferne umkreisende »Sputnik« Christian Berkel selbst ins Zentrum seiner Erzählkünste rücken?

Christian Berkel: Ada. Ullstein, 400 S., geb., 24 €. Hörbuch, gelesen vom Autor, bei Hörbuch Hamburg, 9 CDs, 24 €.

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