Frau Oberbürgermeister

Brunhilde Hanke war das erste und einzige weibliche Stadtoberhaupt Potsdams

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 9 Min.

In der zweiten Etage öffnet sich der Fahrstuhl. Rechts hinten im langen Gang ist es dunkel und die Gestalt von Brunhilde Hanke nur schemenhaft zu erkennen. Doch die 90-Jährige macht sich bemerkbar. »Hier«, ruft sie fröhlich und winkt. Schräg hinter ihr fällt Licht aus der Tür zu ihrer kleinen, seniorengerechten Wohnung, die sie bezogen hat, nachdem ihr Mann Helmut starb.

Vor 60 Jahren wurde Brunhilde Hanke als erste Frau Stadtoberhaupt von Potsdam. Nachdem die SED-Politikerin den Posten 1984 niederlegte, folgten ihr wieder nur Männer - bis heute. 2018 verlor Kandidatin Martina Trauth (Linke) die Stichwahl gegen Mike Schubert (SPD). Hanke machte damals Wahlkampf für Martina Trauth. Am Infostand wurde die ehemalige Oberbürgermeisterin erkannt. »Frau Hanke, wenn Sie noch einmal antreten, meine Stimme haben Sie«, bekam sie von Passanten gesagt. Das war halb im Scherz gesagt und halb im Ernst. Denn sie hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Biografisches

Brunhilde Hanke stammt aus einer Arbeiterfamilie.

Ihr Vater war gelernter Drogist und betreute bei einem Schausteller die Losbude. Die Familie zog im Wohnwagen von einem Rummelplatz zum anderen. Brunhilde liebte dieses Leben, da sie als Schaustellerkind umsonst mit den Karussells fahren durfte und gern Lose verkaufte.

Der Vater gehörte vor 1933 einer anarchistischen Gewerkschaft an, musste im Zweiten Weltkrieg als Sanitätssoldat an die Ostfront, lag im April 1945 verwundet in Erfurt im Lazarett und versteckte sich die letzten Tage vor dem Eintreffen US-amerikanischer Truppen in einer Gartenlaube.

Gleich nach dem Krieg trat der Vater in die KPD ein.

Seine Tochter Brunhilde lernte den Beruf der Näherin und schloss sich 1946 der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) an.

Brunhilde Hanke war Mitglied im Zentralrat der FDJ, studierte an der SED-Parteihochschule in Kleinmachnow und ein Jahr in Moskau. Sie erwarb einen Abschluss als Diplom-Gesellschaftswissenschaftlerin.

Hanke ist Mitglied der Linkspartei. Streitereien in der Führungsspitze ließen sie schon über einen Austritt nachdenken, den sie aber vermeiden möchte. Es könne vorkommen, dass Politiker einer Partei persönlich nicht miteinander können, sagt Hanke. Doch das dürfe die Arbeit an der gemeinsamen Sache nicht negativ beeinflussen. af

»Weil sie sich um die Belange der Menschen gekümmert hat und stets freundlich mit ihnen umging«, erklärt Brandenburgs Ex-Gesundheitsministerin Anita Tack (Linke) das Geheimnis der Beliebtheit von Brunhilde Hanke, die Humor hat und Lebensfreude ausstrahlt. Dass eine SED-Politikerin gut in Erinnerung geblieben ist, können aus dem Westen Zugezogene schwer verstehen - bis sie der Frau persönlich begegnen. Die Ex-Oberbürgermeister Matthias Platzeck und Jann Jakobs (beide SPD, der eine in Potsdam geboren, der andere in Ostfriesland) äußerten sich positiv über Hanke.

Die Frau interessiert sich noch immer für die Stadtentwicklung und sagt ihre Meinung, wenn sie gefragt wird. Man hört ihr zu. Eigentlich wollte Hanke Lehrerin werden, als sie mit 31 Jahren ihre hauptamtliche Tätigkeit bei der Jugendorganisation FDJ beendete. Dann hätte sie endlich mehr Zeit für ihre drei kleinen Kinder, hoffte sie.

Doch es kam anders. Die SED hatte gerade beschlossen, der Jugend mehr Verantwortung zu geben und die Gleichberechtigung der Frauen voranzubringen. Mit einer jungen Oberbürgermeisterin ließen sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Hanke wurde überredet, den Posten wenigstens für vier Jahre zu übernehmen. Es sind 23 anstrengende Jahre daraus geworden. Ein Arbeiter, der im Stadtparlament saß, äußerte sich anfangs skeptisch, ob eine junge Frau der Aufgabe gewachsen sei. Später hat er sich bei ihr mit den Worten entschuldigt: »Ich hatte meine Zweifel.« Sie verzieh ihm das und sagte aufmunternd: »Das ist doch nicht schlimm. Ich hatte auch Zweifel.«

Hanke war 1961 eine der ersten Oberbürgermeisterinnen in einer Bezirkshauptstadt. Bis dahin hatte es Bürgermeisterinnen vor allem in einigen Dörfern und kleinen Städten gegeben. Eine Frau in einer solchen Position war noch ungewohnt. »Auch für meinen Stellvertreter war es nicht leicht. Er hatte sich Hoffnungen gemacht, selbst aufzurücken, als mein Vorgänger das Amt abgab«, berichtet Hanke. Wie man sie anredete, war ihr übrigens völlig gleichgültig. »Ob Oberbürgermeisterin oder Frau Oberbürgermeister zu mir gesagt wurde, das war uns damals egal«, sagt sie. »Uns kam es darauf an, dass Frauen in solche Funktionen kamen.«

Wenn sie allerdings vorher gewusst hätte, dass ihr Arbeitstag 14 bis 16 Stunden zählen würde, hätte sie es nicht gemacht, sagt Hanke rückblickend. »Aber ich war für die Gleichberechtigung. Ich wollte in der Praxis zeigen, dass es geht, dass Frauen das genauso gut können.« Nachher habe sie keineswegs nur aus Pflichtbewusstsein weitergemacht. Es sei ihr auch ein Bedürfnis gewesen. Immer wollte sie dieses oder jenes Projekt noch verwirklichen. »Und das nahm kein Ende. Zum Beispiel wollte ich nicht die Innenstadt so hinterlassen, wie ich sie dann doch hinterlassen musste.« Die schönen Altbauten sollten saniert werden, sobald Geld und Baukapazitäten dafür vorhanden sind, aber daran mangelte es immer. Das bedauert Hanke.

Stattdessen entstanden in ihrer Amtszeit 37 000 Neubauwohnungen, mit denen viele Familien glücklich gemacht wurden. Das ist unübertroffen. Die Ex-Rathauschefin hebt hervor, dass zu den Wohnblocks immer die Schulen, Kitas und Kaufhallen mit geplant worden sind, später auch die Jugendclubs und Seniorentreffs. Nach der Wende sei leider nicht mehr so überlegt vorgegangen worden.

Allein mehr als 1000 Briefe im Jahr landeten auf ihrem Schreibtisch, in denen Bürger um Hilfe baten, die beispielsweise eine Wohnung suchten oder einen Kitaplatz benötigten. Auch auf der Straße wurde sie ständig angesprochen, so dass ihr Mann und ihre Kinder nicht mehr mit ihr spazieren gehen wollten. Da kam etwa eine Frau auf sie zu und sagte: »Ich habe einen Rohrbruch und bekomme keinen Handwerker.« Hanke notierte sich dann den Namen und die Adresse und tat, was sie konnte.

Einen Fahrer hatte die Oberbürgermeisterin. Der holte aber oft früh mit dem Auto nur die schweren Akten bei ihr ab. Hanke lief dann ins Rathaus. So konnte sie frische Luft schnappen, aber es war auch ein Kontrollgang. Wenn sie lose Gehwegplatten entdeckte, über die jemand stolpern könnte, rief sie die zuständige Abteilung an, um die Reparatur zu veranlassen. »Meine Mitarbeiter haben manchmal die Augen verdreht«, lacht sie. »›Die Chefin war wieder zu Fuß unterwegs‹, hieß es.«

Das Engagement hatte einen hohen Preis. Es fehlte immer Zeit für die Kinder. »Als meine zweite Tochter geboren wurde, zog meine Großmutter aus Erfurt zu uns in die Wohnung, um die Kleine zu versorgen, während ich arbeitete und mein Mann studierte.«

Frauen sollen Führungsfunktionen übernehmen. »Aber mit einer Frauenquote ist es nicht getan«, ist Hanke überzeugt. »Man muss Frauen auch ermöglichen, Beruf und Familie zu vereinbaren.« Das sei heute ein großes Problem. Da waren die Frauen in der DDR schon weiter, meint Hanke. Aber leicht sei es auch damals nicht gewesen. Sie erinnert sich an junge Eltern, die beide bei den Verkehrsbetrieben arbeiteten und sich so in die Schichten einteilen ließen, dass jeweils der Vater oder die Mutter bei den Kindern sein konnte.

Für sich selbst hatte Hanke mal die Idee, sich den aufreibenden Posten der Oberbürgermeisterin mit jemandem zu teilen. Aber es wäre schwer zu organisieren gewesen, sagt sie. Man hätte sich ständig absprechen müssen, und wer trüge die Verantwortung?

1200 Mark Gehalt im Monat bekam Hanke anfangs, zum Schluss waren es 1500 Mark. Verglichen mit heute ist die Summe lächerlich gering. Ein Bauarbeiter konnte in den 1980er Jahren in der DDR 1200 Mark verdienen und mit Arbeit nach Feierabend deutlich mehr. Hankes fünfköpfige Familie lebte in einer 150 Quadratmeter großen Altbauwohnung mit Ofenheizung. Als die Kinder aus dem Haus waren, zog das Ehepaar in ein kleineres Quartier, um die große Wohnung für eine kinderreiche Familie frei zu machen. Ihrem Mann gefiel das gar nicht. »Aber ich wollte Vorbild sein. Wir haben doch die Bevölkerung gebeten, es so zu machen.«

So gingen die Jahre ins Land. Anfang der 1980er Jahre weilte Hanke bei einer Konferenz. Jemand flüsterte ihr von hinten ins Ohr, sie solle sofort in die SED-Bezirksleitung fahren. Dort wurde ihr eröffnet, ihre älteste Tochter Bärbel habe in den Westen fliehen wollen. Das Ministerium für Staatssicherheit habe das aufgedeckt und Bärbel sitze in Untersuchungshaft. »Ich war wie vor den Kopf geschlagen.«

Dass ihre Tochter in Widerspruch zur DDR geraten war, das wusste sie. Aber dass sie sogar das Land verlassen wollte, hätte Hanke nie gedacht. »Bärbel konnte nicht verstehen, dass die FDJ Fackelmärsche veranstaltet wie die Nazis. Bärbel hatte Fragen. Das war nicht gewünscht. Sie ähnelte ihrem Vater. Der war auch nicht diplomatisch, sagte offen seine Meinung und bekam deswegen oft Ärger.«

Und Brunhild Hanke? »Ich bin nicht aus der Reihe getanzt.« Der Rat der Stadt durfte nichts beschließen, was die SED-Kreisleitung nicht guthieß. »Das war mir klar, und ich versuchte, die Genossen zu überzeugen.« Manchmal gelang das, manchmal nicht. So wollte Hanke die Ruine des Turms der Potsdamer Garnisonkirche erhalten. Dereinst sollte vom Glockenspiel die Melodie »Friede, Friede sei auf Erden« erklingen. Das ist eine Zeile aus dem Frühlingslied von Johannes R. Becher, vertont von Hanns Eisler. Und eine Ausstellung sollte in den Turm hinein über Karl Liebknecht, der als SPD-Reichstagsabgeordneter 1914 gegen die Kriegskredite stimmte. Diese antimilitaristischen Aussagen in der Garnisonkirche - der Vorschlag besitzt Charme. Doch in Berlin war bereits anders über die Sache entschieden. 1968 wurde die Ruine gesprengt. »Mein Mann hat mich vorher gewarnt«, erzählt Hanke. »Der Abriss wird dir noch einmal schwer auf die Füße fallen.« Doch sie fügte sich. Bei der Abstimmung über die Sprengung im Stadtparlament war Hanke nicht dabei. Sie hatte einen anderen Termin. Aber sie unterschrieb dann das Protokoll. So übernahm sie die Verantwortung. So war sie gestrickt.

Darum ist sie 1989 und 1990 weiter zu den Sitzungen des DDR-Staatsrats gefahren, dem sie angehörte. Zuletzt kamen von 25 Mitgliedern nur noch acht. Da brauche sie ja auch nicht mehr zu kommen, fragte sie. Doch der letzte Staatsratsvorsitzende Egon Krenz sagte zu ihr: »Brunhilde, das kannst du uns nicht antun.« Darum kam sie weiter, bis zum Schluss am 5. April 1990. »Es herrschte eine Situation der Ausweglosigkeit«, sagt sie. Nur Krenz habe versucht, noch Hoffnung auszustrahlen. Doch es sei zu spät gewesen.

Man könnte meinen, die SED-Bezirksleitung hätte Hanke nach der Verhaftung ihrer Tochter Vorwürfe gemacht, sie habe Bärbel nicht richtig erzogen. Das war aber nicht der Fall. »Ich hatte den Eindruck, dass sie Mitleid mit mir haben«, erinnert sie sich. Der Tochter habe sie keine Vorwürfe gemacht, sich stattdessen bemüht, deren Beweggründe zu verstehen. Es war ja nicht so, dass die Oberbürgermeisterin die Probleme in der DDR übersehen hätte. Ganz im Gegenteil. Ihr Mann, ein Professor der Kulturwissenschaft, hatte immer zu ihr gesagt: »In der DDR muss sich viel ändern. Aber der Anstoß muss aus der Sowjetunion kommen. Wir schaffen es nicht allein.«

So gehörte das Ehepaar Hanke zu denen, die große Hoffnungen auf Michail Gorbatschow setzten. Leider habe Gorbatschow auch nur gewusst, dass es so nicht mehr weitergeht, aber keine genaue Vorstellung gehabt, wie ein besserer Sozialismus aussehen könnte, bedauert Hanke. Den Untergang der DDR empfindet sie als Niederlage. Jahrelang grübelte sie in schlaflosen Nächten: »Was haben wir richtig gemacht und was haben wir falsch gemacht?« Eine zufriedenstellende Antwort, wie es hätte gelingen können, hat die nachdenkliche Frau, die bald 91 Jahre alt wird, nicht gefunden. »Im Grunde ist diese Welt, die ungerechte Verteilung des Reichtums, irrsinnig«, meint sie. Die Zerstörung der Umwelt bereitet ihr ebenfalls Sorgen. »Die Welt muss sich dringend verändern, aber wie es genau aussehen soll, dass weiß ich auch noch nicht.«

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