Hessen schiebt Inländer ab

Linksfraktion kritisiert »gnadenlose« Praxis und protestiert

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 4 Min.

Afitap D. lebt seit 1985 in Deutschland. Die 60-jährige Altenpflegehelferin kurdischer Herkunft hat fünf erwachsene Kinder, eines davon ist behindert und benötigt Betreuung. Alle kamen in Deutschland zur Welt und haben einen deutschen Pass. Mehr Verwurzelung im Land scheint nicht zu gehen, sollte man meinen. Dennoch wurde Afitap D. am Dienstag in die Türkei abgeschoben. Zwei Wochen lang wurde sie zuvor im Abschiebegefängnis Darmstadt-Eberstadt festgehalten.

Ein Bündnis mehrerer Frauengruppen, die Linksfraktion im hessischen Landtag, das Bündnis »Community for All« sowie der Bundesverband der Migrantinnen hatten sich für die Freilassung von Afitap D. eingesetzt, es gab eine Kundgebung vor dem Abschiebegefängnis. Die Behörden ließen sich davon jedoch nicht beeindrucken. Möglicherweise könnte nun noch eine größere Gefahr für Afitap D. bestehen: Laut dem Frauengruppenbündnis war die Abgeschobene 1985 als politische Geflüchtete nach Deutschland gekommen. Inwiefern ihr nun Repressionen in der Türkei drohen, ist unklar. »Sie muss sofort zurückgeholt werden«, erklärte die Linke-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke.

Das Schicksal von Afitap D. ist kein Einzelfall. Zuletzt häuften sich Berichte, wonach Menschen, die schon seit Jahren im Land verankert sind, abgeschoben wurden. »Es werden Menschen abgeschoben, die teilweise seit ihrer Geburt in Deutschland leben oder aber den größten Teil ihres Lebens hier verbracht haben«, kritisierte so auch der Bundesverband der Migrantinnen in einem Offenen Brief gegenüber dem hessischen CDU-Innenminister Peter Beuth. Diese Menschen seien dabei in diesem Land sozialisiert und würden auch kein anderes kennen. »Wenn sie sich etwas zuschulden kommen lassen, so sollen sie auch hier die Konsequenzen tragen«, forderte der Verband. Nach Angaben des hessischen Innenministeriums wurden neben Afitap D. zuletzt noch drei Männer aus der Haft in Darmstadt-Eberstadt abgeschoben. Alle vier seien »vollziehbar ausreisepflichtig« und wegen Straftaten verurteilt gewesen. Für die Verurteilung von Afitap D. trägt laut dem Frauengruppenbündnis ihr gewalttätiger Ex-Partner die Hauptverantwortung. Sie habe sich ihm gegenüber zur Wehr setzen müssen.

Einer der ebenfalls von Abschiebung betroffenen Männer ist der 31-jährige Mutlu B. Der Vater einer dreijährigen Tochter kam in Wiesbaden zur Welt, ist in Deutschland aufgewachsen und spricht laut Berichten kein Türkisch. Mittlerweile befinde er sich dennoch nach der Abschiebung in Istanbul und habe weder Geld noch Ansprechpartner. Mutlu B. hatte zuvor bei einer Restaurantkette gearbeitet. Durch eine lange zurückliegende und abgebüßte Strafe war jedoch auch seine Duldung erloschen, er wurde in das Abschiebegefängnis gebracht. Bei einer Kundgebung vor dem Gefängnis wurde ein Brief der Dreijährigen verlesen.

Mutlu B. hatte sich mit einem Hilferuf auch an die hessische Linke gewandt. Dort ist man empört über die harte Abschiebepraxis. »Es ist ein Unding, Menschen abzuschieben, die den Großteil ihres Lebens in Deutschland verbracht haben, hier zur Schule gegangen sind, hier Familie haben und hier arbeiten«, sagte Saadet Sönmez, migrations- und integrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Landtag. Bei Abschiebungen von »faktischen Inländern« müsse laut Bundesverfassungsgericht genauestens geprüft werden, ob die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist, so die Politikerin. »Bei den aktuellen Fällen ist das absolut nicht ersichtlich.« Die schwarz-grüne Landesregierung in Hessen fahre besonders seit der Erweiterung des Abschiebegefängnisses in Darmstadt-Eberstadt eine »gnadenlose Abschiebepolitik«, sagt Sönmez. Die Zahl der Plätze in der Haftanstalt war erst im Januar von 20 auf 80 erhöht worden.

Pro Asyl hatte erst jüngst auf den Fall von Omar F. hingewiesen. Als der Somalier Mitte Februar in Hessen seine Duldung verlängern wollte, wurde er überraschend bei der Ausländerbehörde verhaftet und ebenso in Abschiebehaft in Darmstadt genommen. Kurze Zeit später schob man ihn von dort nach Mogadischu ab. Omar F. lebte seit 2013 in Deutschland und hatte seit drei Jahren in Vollzeit als Maschinenführer bei einem Recyclingbetrieb gearbeitet. Für die Behörden spielte das offenbar keine Rolle. Sein Asylantrag wurde 2017 abgelehnt, seine Klage gegen die Ablehnung 2020 abgewiesen.

»Wir stellen fest, dass in mehreren Bundesländern die Abschiebepraxis immer brutaler wird, und auch Menschen abgeschoben werden, die seit Jahren im Land verwurzelt sind«, sagte Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, gegenüber »nd«. Man sorge sich besonders wegen der Abschiebungen nach Afghanistan und Somalia, da beide Länder offensichtlich Krisengebiete sind. »Solch weitreichende Entscheidungen können nicht von lokalen Ausländerbehörden getroffen werden, da braucht es in den Landesregierungen Sicherungssysteme zum Schutz der Menschenrechte«, so Burkhardt. Er erwartet insbesondere von den Grünen in den Landesregierungen mehr Einsatz, damit Menschen nicht in Lebensgefahr kommen. Die nächste Sammelabschiebung nach Afghanistan ist unterdessen für den 9. März angesetzt.

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