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Ruf nach Aufarbeitung
Die Verbrechen der Colonia Dignidad in Chile wurden in Deutschland nie richtig juristisch verfolgt
An einem Sommertag demonstrieren Angehörige von verschwundenen politischen Gefangenen und ein paar Dutzend Unterstützer*innen in der Villa Baviera, der ehemaligen Colonia Dignidad in Chile. Sie tragen Fotos von Verschwundenen mit sich, fordern auf Transparenten »Wahrheit und Gerechtigkeit« und rufen Parolen wie »Die Justiz muss die Schuldigen endlich bestrafen«. Sie betreten den inzwischen leer geräumten »Kartoffelkeller«, in dem politische Gefangene in den 1970er-Jahren gequält wurden. Wieder im Freien, erklärt die 78-jährige Myrna Troncoso über ein Megafon: »Hier wurden uns unsere Angehörigen entrissen. Sie wurden gefoltert und zu Verschwundenen gemacht.« Die zierliche, aber kämpferische Frau, die das Foto ihres Bruders Ricardo immer um den Hals trägt, ist die Vorsitzende des Angehörigenverbandes von Verschwundenen aus der südchilenischen Region des Maule-Flusses. Die Szenerie aus dem Dezember 2020 wurde der Autorin in einem Video übermittelt.
In dieser Region 400 Kilometer südlich der chilenischen Hauptstadt Santiago liegt am Fuß der Anden die Villa Baviera, wie sich die Siedlung seit 1988 nennt. Das bedeutet »Bayerisches Dorf« und steht für ein touristisches Geschäftsmodell mit Hotel- und Restaurantbetrieb im bayerischen Stil mit Maßbier und Schweinshaxen. In der 1961 von dem deutschen freikirchlichen Laienprediger Paul Schäfer und einigen Getreuen gegründeten einstigen Sektensiedlung Colonia Dignidad leben heute noch etwa 100 der früheren Bewohner*innen. Land, Betriebe und Vermögen der Sekte wurden bereits in den 1980er-Jahren in eine Unternehmensholding transferiert, kontrolliert damals von der Sektenführung - heute oft von deren Nachfahren.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Bis Mitte der 2000er-Jahre mussten viele der etwa 300 Bewohner*innen unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten, waren sexualisierter Gewalt, Prügel und zwangsweiser Verabreichung von Psychopharmaka unterworfen. Die Bundesregierung wusste davon spätestens seit 1966, als zwei Bewohner*innen, denen die Flucht aus der streng abgeriegelten Siedlung gelang, darüber ausführlich berichteten.
Myrna Troncosos Bruder Ricardo wurde 1974, ein Jahr nach dem Putsch unter der Führung des Diktators Pinochet, verhaftet und später vermutlich in die Colonia Dignidad verschleppt. Der chilenische Geheimdienst DINA folterte dort mit Unterstützung der Sektenführung hunderte Oppositionelle, ermordete Dutzende und verscharrte sie in Massengräbern. Berichte von Überlebenden dieser Folter wurden 1976 von der UNO und 1977 von Amnesty International veröffentlicht und waren auch der Bundesregierung bekannt. Ricardos Leiche und die vieler anderer wurden bis heute nicht gefunden.
Chilenische Forensiker*innen suchen seit Jahren nach Überresten der Verschwundenen. Im Oktober 2020 sandten sie Bodenproben von dem Ort einer vermuteten Leichenverbrennung an ein Labor in Bern, berichtet die Menschenrechtsanwältin Mariela Santana. Allerdings konnten in der durch die deutsche Regierung finanzierten Analyse weder menschliche DNA noch Brandbeschleuniger nachgewiesen werden. Zukünftig soll ein argentinisches Forensikerteam mit weiteren Technologien unterstützen.
»Wir wissen, dass hier Massengräber sind, in denen sich vielleicht noch Reste unserer Liebsten finden lassen«, erklärt Myrna Troncoso. Sie fordert einen Gedenkort und Aufklärung - und »dass diejenigen Deutschen, die ab 1973 beteiligt waren, als die Leichen verscharrt und 1978 wieder ausgegraben wurden, aussagen, wo sie sind«. Denn solange das Schicksal und der Verbleib der Verschwundenen nicht aufgeklärt sind, tragen deren Angehörige die Last der Ungewissheit und können - oft bis an ihr Lebensende - keine Ruhe finden.
Szenenwechsel. In Deutschland hat es eine juristische Aufklärung von Folter und Mord, sexualisierter Gewalt und Zwangsarbeit in der Colonia Dignidad nie gegeben. Dabei ist die hiesige Justiz durchaus zuständig, weil Täter*innen und viele Opfer Deutsche sind. Zwar wurde schon 1961 gegen Paul Schäfer wegen sexuellen Missbrauchs an ihm anvertrauten Minderjährigen ermittelt. Dem Sektengründer gelang es jedoch, sich den Ermittlungen durch Ausreise nach Chile zu entziehen. Dieses und über zehn weitere Verfahren gegen Mitglieder der Colonia Dignidad wurden in den folgenden Jahrzehnten - allesamt in Nordrhein-Westfalen - eingestellt. So auch das letzte relevante Ermittlungsverfahren gegen Hartmut Hopp, der als Sprecher der Colonia Dignidad nach außen auftrat und als Verbindungsmann zum Geheimdienst DINA galt. Für Myrna Troncoso ist das eine große Enttäuschung: »Es scheint am politischen Willen zur Aufklärung zu fehlen«, sagt die Vorsitzende des Angehörigenverbandes von Verschwundenen. »Es fühlt sich an, als ob wir vor Erschöpfung mürbe gemacht werden sollten. Aber wir werden nicht aufgeben. Solange wir leben, werden wir Wahrheit, Gerechtigkeit und Erinnerung für alle Opfer der Colonia Dignidad fordern«, fügt sie an.
Friedrich Straetmanns ist Justiziar und rechtspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Linken. Der ehemalige Richter appelliert an die Verantwortung der Politik, sie solle »von ihrem Weisungsrecht gegenüber der Staatsanwaltschaft Gebrauch machen«. In einem Brief an den nordrhein-westfälischen Justizminister, Peter Biesenbach (CDU), drückte er die Sorge aus, die Verbrechen der Colonia Dignidad könnten straflos bleiben, da Deutschland zum sicheren Rückzugsgebiet für Täter geworden sei. »Justizminister Biesenbach könnte eine neue Untersuchung durch die Ermittlungsbehörden veranlassen«, ergänzt Straetmanns.
Dabei beruft er sich auf einen einstimmigen Beschluss des Deutschen Bundestags zur »Aufarbeitung der Verbrechen in der Colonia Dignidad« aus dem Jahr 2017. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, »die ihr zur Verfügung stehenden Maßnahmen zu ergreifen, um die strafrechtlichen Ermittlungen in Deutschland und in Chile voranzutreiben«. Außerdem soll sie zusammen mit der chilenischen Regierung die »gemeinsame Errichtung einer nach wissenschaftlichen Kriterien gestalteten Begegnungs- und Gedenkstätte« befördern. Als Chiles Präsident Sebastián Piñera 2018 zum Staatsbesuch in Berlin war, äußerten er und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sich grundsätzlich positiv zur Errichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte auf dem Gelände der Villa Baviera. Doch die Umsetzung läuft schleppend. Zuständig ist eine Gemischte Kommission mit Vertreter*innen der deutschen und der chilenischen Regierung, über deren Arbeit wenig nach außen dringt.
Elke Gryglewski ist Leiterin der NS-Gedenkstätte Bergen-Belsen. Als Teil eines vierköpfigen deutsch-chilenischen Expert*innen-Teams entwickelt sie im Auftrag der Kommission ein Konzept für eine Gedenkstätte in der Villa Baviera. In diesem Rahmen organisiert sie seit 2014 vom Auswärtigen Amt finanzierte Workshops, sogenannte Dialog-Veranstaltungen. »Es ist wichtig, die unterschiedlichen Betroffenen ins Gespräch zu bringen und gemeinsam zu klären, was eine Gedenkstätte auf dem Gelände der heutigen Villa Baviera leisten soll«, betont Gryglewski.
Jetzige oder frühere Bewohner*innen der Siedlung, die unter einem System von Zwangsarbeit, Missbrauch und Gehirnwäsche leben mussten, Chilen*innen, die als Kinder missbraucht und oft unter Zwang von der Colonia Dignidad adoptiert wurden, Familien von Landarbeiter*innen, die von dem Gelände vertrieben wurden, politische Gefangene, die gefoltert wurden, die Angehörigen der Verschwundenen: Sie alle haben unterschiedliche Erfahrungen und Leidensgeschichten, die an einem jeweils passenden Ort oder Gebäude in der Villa Baviera dargestellt werden sollen, erklärt Gryglewski.
Aus ihrer Sicht sollten die jetzigen Bewohner*innen in anderen Bereichen des Geländes weiterhin wohnen und arbeiten können, denn eine Gedenkstätte brauche »lebendiges Leben um sich herum«. Diesem Konzept stehen auch viele Bewohner*innen der Siedlung positiv gegenüber: »Viele Touristen, die hierher kommen, wollen die Geschichte kennenlernen und die Orte sehen, und es würde hier wieder Leben geben«, sagt Astrid Tymm, die in der Siedlung lebt.
»Wir haben von der Gemischten Kommission den Auftrag bekommen, bis Ende März ein konsolidiertes Programm zum Aufbau einer Gedenkstätte vorzulegen«, erklärt Gryglewski. Die Gedenkstättenleiterin ist optimistisch, dass nun endlich Bewegung in die Sache kommt, denn: Das Auswärtige Amt habe formuliert, dass es ihm wichtig sei, das Programm noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg zu bringen. Auch die chilenischen Expert*innen hätten bestätigt, dass sie mit ihrer Regierung »im Gespräch waren und diesen Zeitplan vereinbart haben«. Klar ist allerdings: Damit diese Initiative für eine Gedenkstätte nicht unter dem chilenischen Minister für Justiz und Menschenrechte, Hernán Larraín, einem früheren entschiedenen Unterstützer der Colonia Dignidad, ins Leere läuft, braucht es mehr Engagement der Bundesregierung als bisher.
Viele der Betroffenen beschäftigt jedoch am meisten die Sorge um ihr Auskommen. Über einen Hilfsfonds der Bundesregierung erhalten Opfer von sexualisierter Gewalt und unbezahlter Zwangsarbeit Einmalzahlungen von bis zu 10 000 Euro. Ein formell beschlossener »Fonds Pflege und Alter« ist allerdings noch nicht konkretisiert. Dabei stehen viele Betroffene nach jahrzehntelanger unbezahlter Arbeit heute ohne Rente da und sind auf Unterstützung angewiesen. So wie die 66-jährige Astrid Tymm, die mit ihrer Minirente von rund 150 Euro schon jetzt kaum über die Runden kommt. Sie fordert aber auch mehr Gerechtigkeit in der Siedlung, »zumindest eine Teil-Gerechtigkeit, denn hier gehört praktisch alles den Firmen«.
In der Villa Baviera, die in Form einer Firmenholding mit Hühnerfarm, Landwirtschafts- und Tourismusbetrieb, aber auch mit Immobilienunternehmen organisiert ist, sind Macht und Reichtum höchst ungleich verteilt. Weiterhin hat nur eine Führungsgruppe Zugriff auf Land, Gebäude und gute Löhne. Laut Bundestagsbeschluss von 2017 sollen diese Besitzverhältnisse geklärt werden, »auch mit dem Ziel, dass Mittel aus dem Vermögen konkret den Opfern zugutekommen«. Doch da ist bisher nichts passiert. Dabei böte eine Offenlegung des Vermögens und Umverteilung zugunsten der Opfer wahrscheinlich die nachhaltigste Verbesserung ihrer Lage. Ein dickes Brett, das hier noch zu bohren ist.
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