Der Sonderort für Sondermenschen

Versiffte Berliner Kneipen oder das Ende der Verklärung: Rebekka Kricheldorfs Romandebüt »Lustprinzip«

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 6 Min.

Berlin, du Pflaster der Welt, Berlin, du heiliger Tempel der Kulturen, Berlin, du Stadt der Somnambulen und Nachtschwärmer. Was hat man über dich nicht schon alles geschrieben? Kein feierliches Adjektiv zog an dir vorüber, ohne dich geboten zu schmücken! Du bist pulsierendes Leben und Hüterin der Geschichte! Du bist … Cut! Aus. Genug der Lobeshymnen auf die Metropole. Nach so viel Huldigung hat die jüngere Gegenwartsliteratur der allgemeinen Berlin-Pathetik ein Ende gesetzt und fragt nun: Was bleibt von der Hauptstadt nach der großen Entzauberung? Neben Katerstimmung und Blues vor allem eines: die Kneipen. In ihnen spielt sich das Leben von Larissa, der Ich-Erzählerin in Rebekka Kricheldorfs Romandebüt »Lustprinzip«, ab. Und zwar in übelsten Spelunken, in denen allerhand menschliches Treibgut angeschwemmt wird, darunter »Krätze-Punks«, Thekenschabracken und der »zahnlose Asi, der kaum imstande ist, seinen Namen zu sagen«, überhaupt und sowieso Säufer zu jeder Tages- und Nachtzeit, am Tresen oder schon auf dem Boden. Es gilt das schlicht-ironische Motto: »Am besten aufgehoben ist der Mensch in der Bar«.

Je mehr die junge Antiheldin jedoch in das Milieu abgleitet, desto mehr verliert sie sich im Herumlungern. Obwohl sie sich so manche Vorsätze gibt, scheitert sie am fehlenden inneren Kompass. Ihre Tage verbringt sie mit Kiffen in skurrilen WGs, mit Pseudokünstlern und Möchtegern-Bohemiens, die gern über den Kapitalismus, die Monogamie und den »biologistische[n] Naziquark« schimpfen. Dass sie nicht weiß, wo ihr der Kopf steht, hängt natürlich auch mit Männern zusammen. Der, den sie will, will sie nicht. Und wenn sie dann mal einen hat, bringt’s der nicht. Also alles fatal, alles abgefuckt, das Leben ein einziges Provisorium. Was Kricheldorf in ihrer fantastischen Milieustudie einfängt, ist nicht das Narrativ vom bunten und mondänen Berlin, sondern die Subkultur.

Mit dieser Ambition steht die 1974 in Freiburg im Breisgau geborene Schriftstellerin keineswegs allein in der Literaturgeschichte. Man denke etwa an die Abrechnung »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« von Christiane F. aus dem Jahr 1978, ein erschreckendes Dokument über die Drogen- und Prostitutionsszene abseits von Mitte und Prenzlauer Berg. Der Archetypus des Berliner Untergrunds schlechthin entstand hingegen schon 1929, nämlich Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«. Hierin sind es die Gauner und ausgebeuteten Proletarier, die die andere, von Elend und Kriminalität geprägte Seite der Weltstadt zeigen.

Sensationeller als das Personal fällt die ästhetische Komposition des Werks aus. Statt mit einer linearen, klassischen Erzählweise nähert sich der zum Klassiker der Moderne avancierte Großstadtroman Berlin mit der filmischen Technik der Montage an. Er erweist sich als ein wildes Sammelsurium aus Zeitungsberichten und allerlei Werbetexten.

Diese Frühform des Livetickers erzeugt eine enorme Geschwindigkeit, so dass Berlin zum Inbegriff der urbanen Beschleunigung und Hyperaktivität wird. Die zweite große Eigenschaft, die Vielfalt, erhält die literarisierte Metropole nicht zuletzt durch Erich Kästners »Emil und die Detektive« (1954). Während die Weimarer Republik ins Wanken gerät, entwirft er darin eine Art Mikroparlament und dazugehörige Demokratie, getragen von solidarischen Kindern unterschiedlicher Herkunft. Eine Utopie, die ihrer Zeit noch zu weit voraus war.

Blickt man nun in die zeitgenössische Literatur, so offenbart sich ein breites Spektrum an Annäherungen an die Hauptstadt. Auf der einen Seite stehen die Verklärer, Träumer und diejenigen, die ihrer Bewunderung Ausdruck verleihen. So etwa Ilma Rakusa mit ihrem durchweg empathischen Tagebuch »Aufgerissene Blicke. Berlin-Journal« (2013) über das alltägliche Flanieren durch die umtriebigen Straßen. Geschildert wird ein Ort friedlichen Zusammenlebens mannigfaltiger Ethnien, ein Ort, der gerade im Angesicht seiner wechselvollen, mithin dunklen Vergangenheit während der Hitler-Jahre das Prinzip der gelingenden Koexistenz der Vielen pflegt. Auf der anderen Seite befinden sich Zyniker wie Leander Steinkopf. Seine Erzählung »Stadt der Feen und Wünsche« (2018) bedient sich in seinen galligen Beschreibungen einer amüsanten Holzfällermethode. Ähnlich den Bernhard'schen Hasstiraden schwingt sein Protagonist das Schwert des Sarkasmus gegen die Bio-Hipster und das Knäckebrot-Bürgertum. Sätze wie »die Radfahrer verpesten die Umwelt mit ihrer Vorbildlichkeit« dokumentieren die gleißende Abrechnung mit den grünen Reformhaus-Kiezbewohnern. Das Zentrum an der Spree ist bei Steinkopf nichts als Schein.

Bei Rebekka Kricheldorf klingt das so: »Wir sind in Berlin, dem Sonderort für sonderbare Sondermenschen. Wir sind die Guten.« Obgleich diese Finte gegen die Prenzlauer-Berg-Bewohner unmissverständlich ist, ist sie dennoch nicht durchweg destruktiv. Vielmehr lässt sie Gegensätze der Stadt hart aufeinanderprallen: »Natur, hübsche Seen. Kleine Brücken. Zwitschernde Vögel. Männer in beigen Pullis, die still auf Parkbänken sitzen und auf ihre Sexpartner warten. Russische Panzer, die von Menschen in Bermudashorts fotografiert werden.« Schönheit und Dekadenz bilden die Pole einer spannungsreichen Topographie, die für alle Autoren schon immer ein Versprechen bereithielt: die Möglichkeit. Berlin, die Insel für Lebenskünstler und Erfinder, für Flaschensammler und Junkies gleichermaßen.

Selbst die Protagonistin in »Lustprinzip« weiß um das Potenzial der Metropole, die ihr immerhin den Zugang zur Universität sichert. Doch die Angst vor den Hörsälen ist zu stark, so dass ihr der Absprung letztendlich verwehrt bleibt. Wer unbegrenzt frei ist, ist oftmals auch verloren. Dass das Romandebüt von Rebekka Kricheldorf, die sich im deutschsprachigen Raum vor allem einen Namen als geniale Dramatikerin gemacht hat, dennoch nur selten in Tristesse kippt, liegt an ihrem erfrischenden Sprachgebrauch. Der Autorin gelingt es mit faszinierender Leichtigkeit, Kulissen und Eigenschaften mit komödiantischer Verve zu beschreiben. Mutter, Vater und Kind »schimmeln den ganzen Tag vor der Glotze ab«, derweil sich in »Ranzkneipen im S-Bahnhof« die »glanzlose[n] Säufer ohne Nimbus und Prestige« zusammenrotten. Mit derlei pointierten Wendungen grenzt sie sich vom Kitsch-Berlin ab und vermag zugleich einen eigenen Sound für das vielschichtige Lebensgefühl in Bars und Randbezirken zu entwickeln.

Dabei erzählt sie noch von weitaus Grundsätzlicherem als allein von Berlin, nämlich generell von prekären Existenzen, die immer wieder unter dem Stichwort Modernisierungsverlierer subsumiert werden. Aus der Abwendung vom Bürgertum hin zu den marginalisierten Gruppen hat sich in den letzten Jahren eine eigene Strömung formiert, die man als Underground- und Szeneliteratur bezeichnen könnte. Ob Heinz Strunk (»Der goldene Handschuh«, 2016), Thomas Melle (»3000 Euro«, 2014), Thomas Nagelschmitt (»Arbeit«, 2020) oder Cihan Acar (»Hawaii«, 2020) - wie Kricheldorf vermitteln diese und andere Schriftsteller*innen Einblicke ins Abseits der Wohlstandsgesellschaft. Offenkundig wird die Ambition, eine neue Lesart der Spätmoderne vorzunehmen, nämlich von unten her, allmählich zu Rissen in der schönen, gläsern-digitalen Welt führen.

Von der Ebene des Kellers sehen wir nicht nur die Menschen und den sozialen Zusammenhalt neu, sondern auch die scheinbar allzu vertrauten Orte. Das hippe Berlin zeigt sich so von seiner heruntergekommenen und vielleicht auch ehrlichsten Facette, nämlich als »geballte Ladung Weltelend«. Es wirkt geradezu unheimlich und dadurch wiederum geheimnisvoll. Berlin erzählt sich, wie wir sehen, also gewiss nie aus. Denn es gibt immer irgendwo noch eine Spelunke, wo Herzschlager aus der Jukebox kommen und das letzte Bier noch nicht getrunken ist, kurzum: wo noch weitere, unbekannte Geschichten auf uns warten.

Rebekka Kricheldorf: Lustprinzip.

Rowohlt Berlin, 240 S., geb., 20 €.

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