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Fukushima: Das lästige Gedenken
Japans Regierung will nicht mehr an die Fukushima-Katastrophe erinnern. Dabei sind viele Probleme ungelöst
Nach dem Beben folgt der Super-GAU. Im März 2011 kollabierten nach einem Erdbeben und einem darauffolgenden Tsunami die Kühlsysteme mehrerer Reaktoren im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi. Es kam zu einer Kernschmelze, große Mengen radioaktiver Stoffe wurden freigesetzt.
Künftig soll in Japan nicht mehr in großem Stil an die Katastrophe erinnert werden. Gedenkveranstaltungen, die bisher immer am 11. März stattgefunden haben, finanziert die Regierung in Tokio zum zehnjährigen Jubiläum ein letztes Mal. »Das ist eine Art Meilenstein«, erklärte schon Anfang 2020 der heutige Premierminister Yoshihide Suga, damals noch Chefkabinettssekretär seines Amtsvorgängers Shinzo Abe. Danach mögen die Regionalregierungen übernehmen, aber für Tokio ist die Sache abgeschlossen.
Das Signal, das diese Nachricht aussenden soll, ist offensichtlich: Die Regierung will einen Schlussstrich ziehen, die Geschichte hinter sich lassen, nach vorne sehen. Schließlich passt das Gedenken an die Katastrophe im Kraftwerk Fukushima Daiichi auch nicht gut zur sonstigen Linie der japanischen Regierung, die an der Atomenergie in eingeschränktem Maß weiter festhält.
»Das Ziel ist, Fukushima vergessen zu machen«, sagt Eiichi Kido, Politikprofessor an der Universität Osaka. Er beschreibt damit noch weitere Maßnahmen in Bezug auf das Atomunglück. Etwa die Entscheidung, im Zuge der ursprünglich für 2020 geplanten, wegen Corona aber auf dieses Jahr verschobenen Olympischen Spiele von Tokio einige Baseball-Begegnungen in Fukushima-City steigen zu lassen, sieht Kido in diesem Licht. »Es soll so wirken, als sei alles wieder in Ordnung.« Dabei muss man wissen: Die Hauptstadt der Präfektur Fukushima, die flächenmäßig ungefähr so groß ist wie Thüringen, liegt 60 Kilometer landeinwärts von der Ruine des Atomkraftwerks und musste seinerzeit nicht evakuiert werden. Zwar wurde nach der Katastrophe auch hier erhöhte Strahlung gemessen. Aber die bis heute bestehenden Probleme finden sich umso deutlicher, je näher man sich Fukushima Daiichi nähert.
An den Tagen der Katastrophe ordnete die Zentralregierung im 250 Kilometer weiter südlich gelegenen Tokio zunächst eine Evakuierung im Umkreis von drei Kilometern um das Kraftwerk an, dehnte den Radius einen Tag später auf zehn Kilometer aus. Kurz darauf lautete die Vorgabe sogar 20 Kilometer und je nach Himmelsrichtung noch etwas mehr. In der Präfektur Fukushima, die anders als umliegende Präfekturen neben den Folgen des Erdbebens und des Tsunamis eben auch mit dem Atom-GAU zu kämpfen hatte, wurden auf Regierungsanordnung insgesamt 167 000 Menschen evakuiert.
Heute gelten noch offiziell 42 000 Personen als Evakuierte. Die 48 000 zerstörten Gebäude sind nach Regierungsangaben mittlerweile zu 100 Prozent durch Neubauten ersetzt. Die landwirtschaftlichen Flächen sowie die Fischereianlagen sind demnach zu über 90 Prozent wieder nutzbar. Tourismus nach Fukushima hat sich - vom in dieser Hinsicht desaströsen Pandemiejahr 2020 abgesehen - in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdreifacht. Auf den ersten Blick könnte man also denken: Fukushima hat die Krise tatsächlich hinter sich gelassen.
Allerdings ist die Sache längst nicht so einfach. Die Zahl der Evakuierten ist auch dadurch stark gesunken, dass viele mittlerweile schlicht als Abwanderer gelten. Obwohl die Behörden wegen gesunkener Strahlenwerte mehrere Orte wieder für bewohnbar erklärt haben, ist die Einwohnerzahl der Präfektur heute um rund 200 000 Einwohner (etwa zehn Prozent) niedriger als vor der Katastrophe. Zusätzlich zu den 42 000 Menschen, die aufgrund ihrer weiterhin auch offiziell nicht bewohnbaren Heimatorte als Evakuierte gelten, wollen rund 160 000 Personen, vor allem jüngere Menschen und Familien, nicht zurückkehren.
Ein Grund, warum viele sich lieber anderswo ein neues Leben aufgebaut haben, ist die Atomruine mit ihren schwer kalkulierbaren Risiken. Erst irgendwann zwischen 2041 und 2051 soll das Kraftwerk zurückgebaut sein. Und selbst dieser Zeitplan wird von verschiedenen Experten angezweifelt. Zunächst müssen rund 900 Tonnen hoch radioaktiver Schrott aus den havarierten Reaktoren geschafft werden. Ein nach wie vor ungelöstes Problem, denn Roboter haben sich hierfür bislang als zu schwach erwiesen. »Der geschmolzene Schrott ist ein Gemisch aus Gebäudeteilen, Beton und anderen Materialien. Für Roboter ist es sehr schwierig, so etwas herauszuschaffen«, sagt Tetsuro Tsutsui, ein pensionierter Ingenieur und Mitglied der nach dem Desaster gegründeten zivilgesellschaftlichen »Bürgerkommission für Atomenergie«.
Ein weiteres Problem ergibt sich, sobald der Schrott geborgen ist. Dann nämlich stellt sich die Frage, wohin damit. Keine Präfektur hat sich bisher dazu bereiterklärt, ihn aufzunehmen, weshalb er vermutlich in Fukushima wird bleiben müssen. »Wir haben noch eine lange Reise vor uns«, gesteht auch Masao Uchibori, der Gouverneur der Präfektur.
Hinzu kommt das Problem mit dem radioaktiv belasteten Kühlwasser, das anfällt: Riesige Mengen werden auf dem AKW-Gelände gelagert. Und da ständig Kühlwasser in die Untergeschosse der Reaktorgebäude austritt, muss zusätzliches Kühlwasser in die Reaktoren gepumpt werden, um den darin verbliebenen geschmolzenen Brennstoff zu kühlen.
Das Kernproblem ist aber ein anderes: Während die Dekontaminierungsarbeiten außerhalb des Atomkraftwerks maßgeblich in Form von Abtragen der Böden durch Menschen betrieben wurden, ist dies im Bezug auf die Reaktorkerne selbst kaum möglich. Noch gibt es keine Lösung, denn für menschliche Körper wäre die Strahlung dort viel zu hoch. Und so wird es noch sehr lange bleiben.
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