- Politik
- Ausschreitungen bei "Querdenker"-Demonstrationen
Wo Corona-Leugner Polonaise tanzen
Bundesweit erneut viele »Querdenker«-Versammlungen / In Dresden kann Polizei Verbot nicht durchsetzen
Ein Jahr nach Verhängung des ersten Lockdowns folgten bundesweit Tausende Menschen den Aufrufen der »Querdenken«-Bewegung zum Protest gegen die Corona-Politik. Dabei eskalierte vor allem in Dresden und Stuttgart die Lage. In der sächsischen Landeshauptstadt gelang es der Polizei nicht, ein von der Stadtverwaltung verhängtes Demonstrationsverbot durchzusetzen. Es kam zu Ausschreitungen, bei denen Polizeiketten überrannt, Beamte verletzt und Pressevertreter angegriffen wurden. In Stuttgart wurden nach dem Ende einer Demonstration ebenfalls Journalisten attackiert. In München löste die Polizei eine Demonstration auf, weil Auflagen nicht eingehalten wurden und die zugelassene Zahl an Teilnehmern überschritten war. Weitere Protestaktionen gab es in Düsseldorf, Berlin, Kiel, Hannover, Erfurt, Cottbus und Potsdam.
In Dresden missachteten mehrere hundert »Querdenker« ein von der Stadt verhängtes Verbot. Dieses war damit begründet worden, dass die Versammlung samt Anreise »von Tausenden Teilnehmern aus Hochinzidenz- und Mutationsgebieten« nach Dresden »dem Schutzzweck aller Corona-Schutzverordnungen zuwiderlaufen« würde. Das Verbot wurde durch das Oberverwaltungsgericht (OVG) Bautzen bestätigt. Daraufhin kündigte die Polizei einen »größeren Einsatz« an; man wolle das Verbot durchsetzen und »konsequent« auf Verstöße gegen Hygieneregeln reagieren.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Beides gelang nicht. Demonstranten zogen in Gruppen durch die Stadt, durchbrachen Polizeisperren, griffen einzelne Beamte brutal an und gingen auf Journalisten los. Dabei wurden weder Abstände eingehalten noch Masken getragen. Weil eine Gruppe in Richtung der Dresdner Messe zog, wurde das dort untergebrachte Impfzentrum vorsorglich mit Wasserwerfern geschützt. Erst nach Stunden gelang es, Gruppen von Protestteilnehmern festzusetzen. Dabei wurden dann immerhin 943 Anzeigen wegen Verstößen gegen Corona-Vorschriften ausgefertigt.
In demonstrativer Missachtung aller Vorsichtsmaßregeln tanzten die Protestteilnehmer im Polizeikessel Polonaise. Derlei Szenen ließen Befürchtungen laut werden, die Veranstaltung könne erneut zu einem »Superspreader-Event« werden. Eine Studie von Berliner Wissenschaftlern war kürzlich zum Schluss gekommen, dass frühere Großveranstaltungen von Corona-Leugnern das Infektionsgeschehen in deren Heimatregionen deutlich befeuert hätten.
Nach der Eskalation in Dresden gibt es in der sächsischen Landespolitik harsche Kritik und den Ruf nach politischer Aufarbeitung. Die Linke drängt auf eine umgehende Sondersitzung des Innenausschusses im Landtag – eine Forderung, die von den Regierungsparteien Grüne und SPD unterstützt wurde. Die Mobilisierungsfähigkeit der Querdenker werde von den Sicherheitsbehörden »offenbar weiterhin massiv unterschätzt«, sagt Valentin Lippmann, Innenexperte der Grünen.
Die Fragen sind um so drängender, als die Dresdner Ereignisse fatal an jene in Leipzig am 7. November erinnern. Damals waren zu einer vom Oberverwaltungsgericht allerdings erlaubten Kundgebung 40 000 Coronaleugner angereist und hatten in Anspielung auf den Herbst 1989 verbotenerweise auf dem symbolträchtigen Leipziger Ring demonstriert; die Polizei hatte sich machtlos gezeigt. Der zuständige Innenminister Roland Wöller (CDU) hatte damals die Verantwortung dem Gericht und der Stadtverwaltung zugeschoben und das Bild friedlich demonstrierender Kinder und Senioren gezeichnet, gegen die man keine Wasserwerfer einsetzen wolle. Danach verlangten nicht nur die Linke die Entlassung des Ministers; auch die Grünen forderten ihn auf, »angemessene personelle Konsequenzen« zu ziehen. In der Koalition konnten sie sich damit nicht durchsetzen.
Jetzt steht Wöller erneut unter Druck. Das OVG und die Versammlungsbehörde entfallen aber als Sündenböcke. Sie sei »gespannt, was uns der Innenminister erklärt und wen er diesmal vors Loch schiebt«, sagte Kerstin Köditz, innenpolitische Sprecherin der Linken. Sie bekräftigte frühere Forderungen ihrer Fraktion, den »Pannen-Innenminister« umgehend zu entlassen. Wöller wiederum sagte der Nachrichtenagentur dpa, der Einsatz werde »kritisch und gründlich ausgewertet«; vorschnelle Urteile und pauschale Kritik an der Polizei seien aber fehl am Platze.
CDU-Regierungschef Michael Kretschmer kommentierte die Dresdner Ereignisse nicht, anders als seine beiden Stellvertreter. Agrarminister Wolfram Günther (Grüne) erklärte, es werde »im Kabinett über den künftigen Umgang mit dem Gewaltpotenzial der Querdenker zu sprechen sein«. SPD-Wirtschaftsminister Martin Dulig warnte vor den Folgen der Demonstration: »Hier wird mit unser aller Gesundheit gespielt«. SPD-Innenpolitiker Albrecht Pallas sagte, der Innenausschuss müsse klären, ob der Kräfteeinsatz gepasst habe und ob eher hätte eingegriffen werden müssen. Es sind Fragen, die in Sachsens Politik freilich schon nach dem Novemberdebakel von Leipzig erörtert worden waren.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.