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Eine Frage des Respekts
Wie die SPD im Bundestagswahlkampf verlorene Wählerschichten zurückgewinnen will
»Wir sind überzeugt: Die Zeit, die vor uns liegt, verlangt neue Antworten. Antworten, die wir mit unserem Zukunftsprogramm geben. Wir schaffen ein neues Wir-Gefühl. Wir sorgen für Veränderungen, die notwendig sind für eine moderne, erfolgreiche Wirtschaft, die Umwelt und Klima schont. Wir machen unseren Sozialstaat fit für die Zukunft. Und wir stärken den Frieden und Europa. Diese Antworten sind für uns eine Frage des Respekts - für 83 Millionen. Für Dich - und mit Dir.«
Mit solchen Worten, die an Aufbruchsstimmung und Zukunftsoptimismus anknüpfen wollen, werben die beiden Vorsitzenden der SPD, Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken, sowie der Kanzlerkandidat und Vizekanzler Olaf Scholz für den Entwurf des Wahlprogramms der SPD.
Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Björn Radke ist Redaktionsmitglied der in Hamburg erscheinenden Zeitschrift »Sozialismus«. Bischoff war mehrere Jahre Abgeordneter der Linkspartei in der Hamburger Bürgerschaft.
Der hier veröffentlichte Text ist die gekürzte Fassung eines Artikels, der auf der Internetseite von »Sozialismus« erschienen ist. Er setzt sich mit dem Entwurf des sogenannten Zukunftsprogramms der SPD auseinander, mit dem diese in den Bundestagswahlkampf gehen will. Der Entwurf wurde Anfang März von den SPD-Vorsitzenden vorgestellt; im Mai soll er von einem Parteitag beschlossen werden.
Zum Weiterlesen: www.sozialismus.de
In der aktuellen gesellschaftlichen Stimmung ist wenig von diesem Zukunftsoptimismus zu entdecken. Dies mag man mit der Verstrickung des Alltags der Bürger*innen mit der jetzt über ein Jahr andauernden Pandemie abtun. Aber bislang haben die SPD und ihr Spitzenkandidat in der Bewertung der Wahlbürger*innen nicht signifikant damit punkten können, dass die enormen staatlichen Ressourcen bei massiver Verschuldung die drohenden Verwerfungen im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess verhindern konnten.
Der ärgerlichste Punkt in dem 48-seitigen Zukunftsprogramm der Sozialdemokratie ist das beredte Schweigen über die politischen Kräfteverhältnisse und Einschätzungen der Parteiführung über angestrebte oder erwartbare Veränderungspotenziale. Die vorliegenden Prognosen deuten auf eine Fortsetzung des seit 1998 bestehenden Abwärtstrends der SPD hin. In den vergangenen 20 Jahren verlor die SPD mehr als die Hälfte ihrer Wähler*innen.
Aus der Sicht der Sozialdemokraten geht es bei der anstehenden Bundestagswahl um grundsätzliche Richtungsfragen. »Es gibt die, die den Sozialstaat abbauen wollen. Ihnen setzen wir das Konzept für einen Sozialstaat entgegen, der es allen ermöglicht, den Wandel zu meistern und kommenden Krisen zu trotzen. Denen, die gegen die Krise ansparen wollen, setzen wir zentrale Zukunftsmissionen mit konkreten Investitionsschwerpunkten entgegen. Wir werben darum, sich unserem Streben nach mehr Respekt und einen besseren Zusammenhalt in der Gesellschaft anzuschließen.«
Das Wahlprogramm ist vom Stolz auf eine historische Leistung der Sozialdemokratie durchzogen. »Wie wertvoll ein funktionierender Sozialstaat ist, haben wir in der Corona-Krise erlebt. Anders als in anderen Ländern haben wir die Folgen der Krise abmildern können.« In der Tat ist und bleibt der über ein Jahrhundert währende Kampf der Sozialdemokratie für eine soziale Regulierung des Kapitalismus das Verdienst der Partei. Jeder Blick auf die anderen kapitalistischen Hauptländer zeigt: »In der Corona-Krise wird einmal mehr überaus deutlich, dass Kostenminimierung nicht das Maß aller Dinge sein darf. In der Wirtschaft, im Gesundheitssystem, im Bildungssystem, der Justiz und anderen wichtigen Bereichen wurde zu viel ›auf Kante genäht‹. Trotzdem ist unsere Gesellschaft stabil - auch unter widrigen Umständen und in krisenhaften Situationen. Wir müssen alles dransetzen, dass es so bleibt.«
Aber richtig ist auch, dass die Sozialdemokratie beim »auf Kante nähen« kräftig dabei war, und bis heute diese Politik des Neoliberalismus light verdrängt. Ohne weitere Begründung wird jetzt ein weiterer Ausbau des Sozialstaates gefordert: »Die oberen fünf Prozent« sollen demnach »stärker für die Finanzierung der wichtigen öffentlichen Aufgaben« herangezogen werden. Auf »sehr hohe Vermögen« soll ein Steuersatz von einem Prozent eingeführt und die allgemein »Hartz IV« genannte Grundsicherung durch ein sogenanntes Bürgergeld ersetzt werden. Den gesetzlichen Mindestlohn will die SPD auf mindestens zwölf Euro anheben. Der Kampf gegen den Klimawandel spielt im Programm eine wichtige Rolle - unter anderem spricht sich die SPD für ein generelles Tempolimit von 130 Kilometern pro Stunde auf deutschen Autobahnen aus.
Während Träume und Zukunftsoptimismus den Entwurf durchziehen, fehlt eine realistische Beurteilung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen, was letztlich die Glaubwürdigkeit der SPD infrage stellt. So ist im Entwurf zu lesen: »Wir wollen, dass möglichst viele Unternehmen sich an den Tarifverträgen beteiligen. Die Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung ist unanständig. Wir werden diese Praxis zurückzudrängen. Ein öffentlicher Auftrag darf nur an Unternehmen vergeben werden, die nach Tarif bezahlen. Dazu schaffen wir ein Bundestariftreuegesetz. Eine bessere Tarifbindung ist darüber hinaus eine wichtige Voraussetzung, die Lohnangleichung zwischen Ost und West durchzusetzen.«
Harte Realität heute aber ist: Nach jahrelangen Bemühungen, insbesondere durch ver.di, verweigerten die Arbeitgeber der Caritas die Zustimmung zu einem bundesweiten allgemeinverbindlichen Tarifvertrag für die Altenpflege. Auch die Diakonie sah sich nicht in der Lage ein positives Votum für eine signifikante Verbesserung insbesondere der Löhne in der Altenpflege abzugeben. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) war darüber enttäuscht. Er könne die Kirchen nicht auf den Weg des Tarifvertrags zwingen.
Die SPD versichert - künftige Konflikte mit dem bürgerlichen Lager vorwegnehmend -, eine Politik der Austerität wäre nach der Krise ein völlig falscher Weg. »Wer diesen verfolgt, setzt unsere Zukunft aufs Spiel oder will harte Einschnitte in den Sozialstaat.« Die gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen sei eine Grundvoraussetzung für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die extrem ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen sei nicht nur sozialpolitisch bedenklich, sondern auch ökonomisch unvernünftig. Die hohe und weiter wachsende Konzentration des Vermögens bei einigen Hochvermögenden verhindere nachhaltiges Wachstum und verschenke wertvolle Potenziale. Die SPD werde daher der Steuergerechtigkeit Geltung verschaffen. Gegen Steuerhinterziehung, Steuervermeidung und Steuerbetrug werde die Partei konsequent vorgehen.
Der erklärte politische Wille ist beeindruckend. Zugleich wird das Schweigen darüber, warum die europäische Sozialdemokratie unter der programmatischen Peitsche von Blair/Schröder sich auf »knappe Kante« und Förderung eines Ausbaus der marktförmigen Gesellschaft eingelassen hat, noch drückender. Überbrückt werden soll dieser Widerspruch durch die Formel von einer Gesellschaft des Respekts. Was soll das sein?
»Eine Gesellschaft, in der wir uns gegenseitig anerkennen, auch wenn wir in vielerlei Hinsicht verschieden sind«, heißt es im SPD-Programm. »Eine Gesellschaft, in der niemand auf den oder die andere herabschaut und in der Meinungsverschiedenheiten fair, zivilisiert und auf Basis unserer demokratischen Grundsätze ausgetragen werden. Wo dieser Respekt fehlt, zerfällt unsere Gesellschaft. Das ist der Nährboden für rechte Populisten. Unsere Politik zielt darauf ab, diesen Respekt wiederherzustellen. Unsere Politik des Respekts achtet die Würde jeder Arbeit und jede Lebensleistung. Sie steht für gleiche Lebenschancen für alle. Sie sorgt für gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land. Sie ist konsequent gegen jede Form von Diskriminierung, egal ob es um soziale Herkunft, Geschlecht, Migrationsbiografie oder sexuelle Orientierung geht. Sie steht für politische und soziale Bürger*innenrechte. Sie steht aber auch für Pflichten.«
Kanzlerkandidat Scholz sieht, dass die SPD in früheren Zeiten die Regulierung des Kapitalismus auf dem sozialen Aufstieg der benachteiligten Schichten gründete. Jetzt wird das mit dem Aufstieg schwieriger, daher die Formel vom Respekt: Er wolle, schrieb er in der »FAZ«, eine »durchlässige Gesellschaft, in der die Herkunft nicht über den späteren Berufsweg entscheidet. Für mich verdient jede Anstrengung und jede Arbeit die gleiche Anerkennung. Egal, ob mit Hochschulstudium, im Handwerk oder ob jemand eine ungelernte Tätigkeit ausübt: Nicht ein formaler Status soll wichtig sein, sondern, ob man etwas aus sich und seinem Leben macht. Was man beiträgt zu unserer Gesellschaft.«
Weil in den kapitalistischen Gesellschaften sich die Produktivität und das Wirtschaftswachstum verlangsamt haben, kann der Respekt zum Schlüsselbegriff werden. Während es in unentwickelteren Phasen des Kapitalismus als Schicksal galt, in eine Klasse hineingeboren zu werden und es den Anspruch gab, »diese sozialen Schranken kollektiv zu überwinden, gilt heute der Platz in der Gesellschaft ausschließlich als Ergebnis individueller Anstrengung«. Da zugleich die solidaritätsstiftenden Institutionen und Erzählungen geschwächt sind, könnte der Respekt den früheren Rang der meritokratischen Erzählung einnehmen, und ein neues Zeitalter der Sozialdemokratie eröffnet werden.
Für die SPD war, gestützt auf den meritokratischen Traum - nur Leistung durch eigene Arbeit zählt -, die Mitte mit den Merkmale der meritokratischen Triade (Beruf, Bildung, Einkommen) die politische Zielgröße. Die Politik der Mitte war der Schlüssel für die sozialdemokratische Politik. Denn für viele Arbeiter*innen verbesserten sich die Lebensbedingungen bis in die 1970er Jahre. Das konnte sich auch die SPD als Erfolg auf die Fahnen schreiben. Schließlich war es nicht zuletzt ihre Politik, die Teilen der Arbeiterschaft die Chance einräumte, durch Bildung und Leistung die Leiter des sozialen Aufstiegs emporzusteigen. Ihren Höhepunkt erreichte die SPD schließlich, als es ihr gelang, moderne Arbeitnehmer*innen, klassische Industriearbeiter*innen und Teile der Mittelschichten für eine Politik der gerechten Verteilung und gesellschaftlichen Teilhabe zu gewinnen.
Mit dem Ende der Politik der Leistungsentlohnung, dem sozialen Aufstieg infolge der Transformation des Kapitalismus, wurde der Sozialdemokratie der gesellschaftliche Boden entzogen. Scholz und die neue Sozialdemokratie wollen das frühere Narrativ jetzt durch »Respekt« ersetzen. Aber auch der Respekt hat einen materiellen Kern: Natürlich habe Respekt »auch etwas mit den Löhnen und Gehältern zu tun«.
Die Bewährungsprobe für den Respekt sind flächendeckende Tariflöhne und für die Ausnahmen existenzsichernde Mindestlöhne. Ohne diese Verteilungsstrukturen gibt es kein Ende der Armut im Alter und kein Ende der Vermögensungleichheit. Respekt bedeutet eben mehr, als die und den anderen so anzuerkennen, wie sie und er ist, sondern zugleich dafür zu sorgen, dass jede und jeder für die geleistete Lohnarbeit eine befriedigende Existenz ohne staatliche Zuschüsse gestalten kann.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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