Kultur in Gefahr

Aus Protest werden in Frankreich immer mehr Theater besetzt

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ging los mit dem Odéon in Paris, das besetzt wurde. Das berühmte Theater im Herzen von Paris war schon im wilden Mai 1968 Schauplatz einer Besetzung, der Ort der bourgeoisen und elitären Kultur sollte in ein Zentrum der permanenten Revolution verwandelt werden, hieß es im damaligen Duktus der revoltierenden Studenten. Dass diese ihrerseits zwar behaupteten, nun sei Schluss mit dem Theater, während ihre Aktion deutlich theatrale Züge trug, zog auch Spott auf sich. Der Dramatiker Jean Genet meinte, man hätte, wenn überhaupt, doch ein Ministerium stürmen und besetzen sollen. Die Zeichen haben sich inzwischen gewandelt. Wollten die Besetzer von 1968 noch eine Unterbrechung des Theaters, so fordern die Besetzer unserer Tage - seit über eine Woche halten sie sich schon im Odéon auf - das Gegenteil: »Wir machen auf«, heißt es. Techniker und Schauspieler protestieren, unterstützt von der linken Gewerkschaft CGT, gegen die Schließungen der Kulturstätten.

Der Protest richtet sich gegen die willkürliche staatliche Unterscheidung von »sicheren« und »unsicheren« Orten, wobei die Kultur pauschal letzteren zugeschlagen wird. Plausibel ist das nicht - das Signal jedoch ist eindeutig: Kultur wird als entbehrlich erachtet. Völlig egal ist, dass zwar Kirchen und Supermärkte geöffnet sind, auch die Hygienekonzepte der Kulturstätten können dem nicht abhelfen. Kein Wunder, dass die Kulturarbeiter den Eindruck haben, hier würde eine Branche geopfert, um die anderen ungehindert und unhinterfragt am Laufen zu halten. »Kultur geopfert«, so heißt es auch auf einem Transparent am Odéon. Inzwischen breitet sich die Bewegung aus. Über 30 Kulturstätten in ganz Frankreich wurden bereits besetzt. Ein Tanzzentrum in Montpellier, die Oper in Rennes, Theater in Tours, Marseille, Toulouse, Rouen, Amiens, Nimes, Strasbourg, Lille und viele mehr. Das La Colline in Paris haben Schauspielschüler besetzt. Die Wut ist groß. Die Kulturministerin Roselyne Bachelot suchte das Gespräch mit den Besetzern des Odéon, nannte die Aktionen aber sowohl »nutzlos« als auch »gefährlich«. Doch einen Plan der Regierung für die Kultur gibt es bis heute nicht.

Es geht nicht nur um die Öffnung, sondern auch um finanzielle Hilfen. Die »Intermittents«, worunter freischaffende Kulturarbeiter fallen, werden staatlich abgesichert. Ab einer bestimmten Anzahl gearbeiteter Stunden kann man Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld beziehen. Seit Jahren haben sich verschiedene Regierungen daran versucht, dieses Modell einzuschränken oder abzuschaffen. Jedes Mal ist das bisher gescheitert. So war es bereits 2016 das Odéon, das im Zuge der Proteste gegen solcherlei Pläne der Regierung besetzt wurde. Am Ende räumte die Polizei. Heute weisen die protestierenden Kulturarbeiter darauf hin, dass es nicht allein um sie geht. Es sind zahlreiche prekär und temporär Beschäftigte, beispielsweise in der Gastronomie, die nun ohne Hilfe und Perspektive in die Armut gestürzt werden, während die Regierung ihren heroischen Kampf gegen ein Virus inszeniert. Gefordert werden unter anderem die Ausweitung der Anerkennung von »Intermittents« und - solange ganze Branchen faktisch Berufsverbot haben - eine Loslösung von der minimalen Stundenzahl.

Die Proteste reichen über die Theaterszene weit hinaus. Unter dem Schlagwort »Kultur in Gefahr« wurden bei der Verleihung der renommierten César-Filmpreise am Wochenende die Regierung und die Kulturministerin scharf kritisiert; die Schauspielerin Corinne Masiero entkleidete sich aus Protest. »Keine Kultur, keine Zukunft« hatte sie auf die nackte Haut geschrieben. Auch die berühmte Schauspielerin Isabelle Huppert forderte die Öffnung der Kinos. Die warten teils nicht länger auf die Erlaubnis und öffneten einfach ihre Türen für kostenlose Vorführungen. Die Komikerin Marina Foïs, die als Moderatorin durch die César-Verleihung führte, sagte, man habe die Jungen eingesperrt, die Kinos, Theater und Museen geschlossen sowie Konzerte verboten, damit in einem säkularen Land die Alten zur Messe in die geöffneten Kirchen gehen können. Das Verständnis dafür, so scheint es, schwindet allerorten.

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