Gleichgültig und geschichtsvergessen

Streitfall Antisemitismus? Wie Judenfeindschaft bekämpft werden kann und muss

Leider nur virtuell konnte jüngst das Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« eröffnet worden. Israels Staatspräsident Reuven Rivlin mahnte in seiner Videobotschaft: »Wir müssen eine Null-Toleranz gegen jegliche Form des Antisemitismus zeigen. Ob auf der Straße, in den Online-Medien oder in der Politik.« Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier merkte an, dass jüdisches Leben in Deutschland »immer noch bedroht, ja sogar wieder stärker bedroht ist«. Und der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, forderte im Kampf gegen Vorurteile und Hass die Vermittlung von mehr Wissen über das Judentum wie auch über die Entstehung von Vorurteilen. Ob dies die jüngst auf dem deutschen Buchmarkt erschienenen Publikationen zum Thema zu leisten vermögen? Schön wäre es.

Sigmund Gottlieb, ehemaliger Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens, ist zu danken für sein klares Statement: »Antisemitismus ist zuallererst ein deutsches Phänomen, weil er in der Dimension seiner Bestialität während des Dritten Reichs nächst uns angeht.« Ein besorgter Blick zu den Nachbarn ist nötig, sollte aber den Blick auf Umtriebe und Anschläge hierzulande nicht verstellen. Was im vergangenen Jahr in Halle und Hamburg geschah, widerspricht der Beweihräucherung Deutschlands als »Weltmeister« der Geschichtsaufarbeitung. Gottlieb verweist auf eine Umfrage des Jüdischen Weltkongresses, nach der 27 Prozent der Deutschen und 18 Prozent der »Elite« antisemitische Klischees hegen. Schockierend: 26 bis 28 Prozent der »gebildeten Mitte« mit Hochschulabschluss sind der Ansicht, Juden würden zu viel Macht in der Weltpolitik und Wirtschaft ausüben.

Gottlieb spricht vom »Land der Gleichgültigen« und fragt sich, ob »wir« - ein problematisches, pauschalisierendes Pronomen - wahrnehmen, was in »unserer« Gesellschaft geschieht. »Gleichgültigkeit, Geschichtsvergessenheit und der latent vorhandene Sympathie- und Toleranzspiegel eines Viertels der Deutschen für den Antisemitismus haben sich in den vergangenen Jahren in einer unheiligen Allianz gegen deutsche Juden verschworen.« Scharf rechnet der Autor mit den »Schamlosen« in der AfD und deren geheucheltem Bekenntnis zum Judentum in Deutschland ab. Er kritisiert aber auch Sprachentgleisungen von Unionspolitikern und deren mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft, »Alarmzeichen« ernst zu nehmen. Stark des Konservativen Klage: »Ein Staat, der zulässt, dass Judenfeindschaft wieder gesellschaftsfähig geworden ist, versagt. Ein Staat, der die Ausdrucksformen, die Zeichen der Angreifer nicht zu lesen in der Lage ist, dem ihr Denken und ihre Sprache verschlossen bleiben, versagt.« Keine Erwähnung findet in des Bayern Büchlein indes, dass der Bundesvereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) 2019 die Gemeinnützigkeit aufgrund der Einstufung dieser nach dem Krieg von Shoah-Überlebenden gegründeten Organisation als »extremistisch« durch den bayerischen Verfassungsschutz entzogen worden ist. Die Rücknahme dieses, alle Antisemiten und Rechtsextremisten geradezu ermunternden Entscheids steht noch immer aus. Sie sollte endlich erfolgen, wenn nötig per Regierungsbeschluss. Das wäre ein eindeutiges Signal!

Was nun sind Gottliebs Vorschläge? »Es ist Zeit, den Worten endlich Taten folgen zu lassen«, fordert er. Löblich auch sein Plädoyer, »das abgenutzte Wort der Solidarität wieder mit Leben zu füllen«. Das liest man überrascht, ist doch von bundesstaatlich bestallten »Aufarbeitern« der Geschichte der DDR die von ihr praktizierte eifrig diskreditiert worden. Dem Autor ist zuzustimmen, wachsamer auf Sprache zu achten. Warum er selbst dann allerdings Beschimpfungen aus antisemitischem Wortschatz kolportiert (die hier nicht wiederholt seien), erschließt sich nicht.

Auf den alltäglichen Antisemitismus in der Sprache fokussiert ist die Streitschrift von Ronen Steinke von der »Süddeutschen Zeitung«. Er verweist auf Lehnwörter aus dem Jiddischen wie Schlamassel, Tacheles, meschugge oder Chuzpe, die in ihrer ursprünglichen Bedeutung benutzt werden. Daneben gibt es indes etliche Umdeutungen mit offen antisemitischer Konation. Ins frauenverächtliche Gegenteil gewendet ist »Ische«, was im Jiddischen wertneutral für Mädchen oder junge Frau steht. »Mischpoke«, Familie, wird im Sinne einer »üblen Gesellschaft« missbraucht. Für diese Assoziation dürfte ein Eintrag in den Duden 1941 verantwortlich sein. Gedankenlos werde zudem in bundesdeutschen Zeitungen, nicht nur in der »Welt«, auch in der »Zeit«, »Taz« und »Süddeutschen«, wie Steinke einräumt, das Wort »Mauschelei« verwandt, eine antisemitische Schmähung, aufgekommen im 17. Jahrhundert, abgeleitet vom hebräischen Vornamen Mose/Mosche. »Warum es auf die Wortwahl ankommt«, so der Untertitel von Steinkes Broschüre, richtet sich nicht nur an die schreibende Zunft. Eine aufschlussreiche Publikation. Schade nur, dass der Autor es sich nicht verkneifen konnte, die alte Leier vom judenfeindlichen Juden Karl Marx zu bedienen.

Breiter angelegt ist die Studie von Karin Wetterau, Germanistin und Historikerin, zu der Wolfgang Benz das Vorwort schrieb. Der langjährige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin warnt, dass gerade in einer Zeit zunehmenden Antisemitismus - geschürt auch von Corona-Leugnern - der Begriff »in der öffentliche Erregung zur beliebig einsetzbaren Allzweckwaffe« wird, um weltanschauliche Gegner zu denunzieren, insbesondere Kritiker der Politik der israelischen Regierung gegenüber der palästinensischen Bevölkerung. Benz spricht vom »sekundären Antisemitismus« - »nicht trotz, sondern wegen Auschwitz«. Von der in Deutschland dominierenden Praxis, die Einstellung zu Juden auf die Haltung gegenüber Israel zu reduzieren, hält der Forscher nichts. »Das ist zugleich der bequeme Ausweg, die in der Mehrheitsgesellschaft immer noch vorhandene Abneigung gegen Juden zu marginalisieren.« Der notwendige Kampf aller Demokraten gegen das Übel der Judenfeindschaft werde gelähmt durch den Streit um die Deutungshoheit, wer bestimmen darf, was Antisemitismus ist.

Daran anschließend referiert und reflektiert Karin Wetterau jüdische Kritik an »deutscher Larmoyanz« und »Gedächtnistheater« - entleerte Gedenkrituale, die die »Wiedergutwerdung der Deutschen« bezeugen sollen. Dass linke Friedensvorschläge im Nahost-Konflikt mit dem Stigma Antisemitismus belegt werden, sieht sie im Kontext mit der unter Benjamin Netanjahu besonders offensiv betriebenen Verdrängung akuter sozialer Probleme durch »nationalistische und chauvinistische Scheinlösungen«. Der in Israel unter Korruptionsverdacht stehende Premier scheute sich nicht, die Bundeskanzlerin aufzufordern, dem Jüdischen Museum in Berlin sowie zwölf Nichtregierungsorganisationen, darunter die Heinrich-Böll- und die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die finanziellen Mittel zu streichen. Solch Gebaren unterstützt nicht jene Kräfte, die den Antisemitismus mit allen Wurzeln ausreißen wollen, ist eher Wasser auf die Mühlen der Antisemiten. Karin Wetterau zitiert den Publizisten Ofer Waldmann, der in einem Interview beanstandete, dass ein pauschaler Antisemitismusvorwurf wider jegliche Kritik an der israelischen Regierung sich gegen innerjüdische Vielfalt richte, gegen Pluralismus und offene Gesellschaft in Israel wie in der Bundesrepublik.

Um eine exakte Definition von Antisemitismus, deren landläufiges Fehlen Benz moniert, bemühen sich Anne Goldenbogen und Sarah Kleinmann in ihrer Publikation. Sie berufen sich auf die Kritische Theorie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die diesen politökonomisch begründeten, als »Verkleidung von Herrschaft« und »Triebumleitung als Reaktion auf die physischen und psychischen Zumutungen der Moderne« beschrieben. Die Autorinnen verweisen dankenswerterweise auf die »Verschränkungen« von Antisemitismus, Rassismus und Antiromaismus, Sexismus, Antifeminismus, Homo- und Transfeindlichkeit, völkischem Denken und Verschwörungsideologien. Daraus leiten sie »Sinn und Notwendigkeit solidarischer Allianzen« ab. Diese benötigten nicht unbedingt identische Erfahrungen, sondern eine »gemeinsam geteilte Absage an Dominanz«. Politisch gelte es, so die Autorinnen, jedweder antisemitischen Äußerung offen und deutlich zu widersprechen und dabei auch den »latenten Bedeutungsgehalt subtiler, chiffrierter Äußerungen einzubeziehen«. In ihrer empirischen, faktengesättigten, mit reichlich statistischem Material unterfütterten und international vergleichenden Studie üben sie aber auch Kritik an einigen Linken, die sich als antisemitismus-, rassismus-, sexismuskritisch verstehen, »teilweise dennoch antisemitische Tendenzen aufweisen« und jedwede Reflexion darüber jedoch ablehnen würden, weil sie sich per se als aufgeklärt-emanzipatorisch dünken: »Hier scheint eine stärkere Sensibilität auch innerhalb eigener Diskurs- und Allianzräume notwendig.« Darüber ist freilich weiter zu debattieren.

Für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Antisemiten hierzulande wie andernorts bieten die hier vorgestellten Publikationen eine solide Basis. Bleibt abschließend die von Schuster zur Eröffnung des Jubiläumsjahres »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« artikulierte Hoffnung: »So wie wir es hinbekommen werden, die Corona-Pandemie zu bewältigen, so können wir die Bevölkerung auch stärker gegen Antisemitismus immunisieren.«

Sigmund Gottlieb: Stoppt den Judenhass! Hirzel, 92 S., br., 15 €.

Ronen Steinke: Antisemitismus in der Sprache. Duden-Verlag, 64 S., br., 8 €.

Karin Wetterau: Neuer Antisemitismus? Spurensuche in den Abgründen einer politischen Kampagne. Aisthesis, 142 S., br., 18 €.

Anne Goldenbogen/Sarah Kleinmann: Aktueller Antisemitismus in Deutschland. Verflechtungen, Diskurse, Befunde. Rosa-Luxemburg-Stiftung, 50 S.; zu bestellen als Broschüre oder PDF unter: www.rosalux.de/publikation/id/43659

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