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La Gioconda ist eine Partisanin
Joyce Lussu beschreibt ihre Erlebnisse im antifaschistischen Widerstand
Paris war in jenen Junitagen des Jahres 1940 fast gänzlich verwaist. Ein dichter, gelblicher, ekelerregender Dunstschleier lag schwer über den stillen Straßen und den leeren Häusern. Vielleicht war es künstlicher Nebel, vielleicht der Rauch der brennenden Treibstoffdepots. Nun, da unsere Schritte einsam über das Pflaster klangen, erschien der Place du Pantheon noch weitläufiger und Respekt einflößender. Auch die alten Palais und imposanten Monumente gewannen im Dunst dieser tragischen Vorahnung an Größe, verlassen und erhaben ragten sie auf, wie einst die römischen Senatoren auf dem Kapitol, die, reglos auf ihren kurulischen Sesseln verharrend, die Ankunft der barbarischen Invasoren erwartet hatten. Auch hier standen mittlerweile die Barbaren vor den Toren. Und Paris verteidigte sich nicht, Paris erklärte sich zur offenen Stadt. Wir, die wir immer gehofft hatten, dass Paris sich nicht ergeben würde, dass es dem Beispiel Madrids und Warschaus folgen würde, dass das Volk, vom Heer im Stich gelassen, Haus um Haus verteidigen würde, wir mussten nun vor den Tatsachen kapitulieren. In Kürze würden die Deutschen in Paris einmarschieren, ohne eine Patrone zu vergeuden, mit Fanfaren vorneweg, im Triumphzug und Paradeschritt. Die totale Katastrophe war Wirklichkeit geworden.
Joyce Lussu beschreibt die Endphase der Resistenza lunga, des politischen Widerstands gegen Mussolini, der sich bereits ab Mitte der 1920er Jahre in der Emigration organisierte. In Frankreich wird Joyce Lussunach dem Einmarsch der deutschen Truppen Juli 1940 zur Dokumentenfälscherin und Fluchthelferin.
Sie begleitet Emilio Lussu über eine Schleuserroute nach Portugal, absolviert in Großbritannien eine militärische Ausbildung und wagt September 1943 eine riskante Mission durch die Frontlinien zu den alliierten Truppen im befreiten Süditalien. Lussu erzählt in ihren bereits 1945 publizierten Erinnerungen mit wachem Sinn für Dramaturgie und Dramatik. Ihre Sympathie liegt bei den Frauen, den Entrechteten und Unterprivilegierten. Ihre Abscheu, auch Hohn und Spott gelten den Polizei- und Militärapparaten jeglicher Couleur und deren Handlangern.
Joyce Lussu (1912 - 1998), Aristokratin, Sozialistin, Autorin und Übersetzerin, emigrierte 1924 in die Schweiz und studierte 1930 bis 1932 Philosophie in Heidelberg. Nach Aufenthalten in Afrika lebte sie ab 1938 in Frankreich, Portugal und Großbritannien. 1943 kehrte sie nach Italien zurück und arbeitete politisch wie journalistisch für den Partito d’Azione, die PSI, die PSIUP und die Umweltpartei I Verdi.
Christa Kofler studierte Italienisch und Geschichte und promovierte zur linken Presse nach 1945 in Tirol. Sie übersetzt aus dem Italienischen und betreut Buchprojekte, u. a. zur österreichisch-italienischen Geschichte.
Es blieb uns keine andere Wahl, als fortzugehen, wie alle anderen auch. Und da es seit mehreren Tagen weder Züge noch sonstige Transportmittel mehr gab, machten Lussu und ich uns zu Fuß auf den Weg, so wie wir waren. Wir ließen auch unsere liebgewonnene Wohnung, deren Fenster im Grün der Platanen so schon geschimmert hatten, einfach im Stich. Doch wen kümmerte es schon angesichts der apokalyptischen Atmosphäre, die an das Jahr 1000 gemahnte. In der Dämmerung marschierten wir durch die verlassenen Straßenzüge und wälzten unsere düsteren Gedanken : Die Niederlage Frankreichs sahen wir als Niederlage einer ganzen Zivilisation; England, von allen alleingelassen, würde sich nicht halten können; der Triumph des Faschismus führte möglicherweise in ein neues Mittelalter. All dies bedeutete den Zusammenbruch unserer Welt, unserer gesamten Existenz.
Auf dem stillen Asphalt irrten Rassehunde und edle Katzen umher, die von ihren Herrchen auf der Flucht zurückgelassen worden waren. Sie schienen verloren und unfähig, sich dem Überlebenskampf zu stellen. Mit mitleiderregenden Blicken, einschmeichelndem Gewinsel und doch stolzem Gehabe näherten sie sich uns, als würden sie um Hilfe bitten. Einige folgten uns ein Stück weit, im Vertrauen auf die Allmacht und immanente Güte und Gerechtigkeit ihrer Götter. Doch ihre Götter, wie alle Götter, hatten anderes im Sinn.
In Richtung Porte d’Orleans belebten sich dann die Straßen. Entlang der Umfahrungsstraßen wogte ein gigantischer Flüchtlingsstrom aus dem Norden und dem Osten. Bald schon sah man Motorräder und LKWs voller Frontheimkehrer mit aufgepflanzten Bajonetten und zerrissenen und staubigen Uniformen. Rasch wurden sie von der nach Neuigkeiten gierenden Menge umringt. »Sie haben uns verraten«, riefen die Soldaten mit zusammengebissenen Zähnen und Augen voll blinder Verzweiflung. Über ihre schmutzstarrenden Gesichter rann der Schweiß. »Verraten und verkauft. Die Offiziere haben mit den Deutschen gemeinsame Sache gemacht. Anstatt uns die Waffen auszugeben, haben sie sie versteckt. Und dann sind sie alle davongerannt und haben uns im Durcheinander zurückgelassen, ohne Nachrichten und Verbindungen.«
Laut hupend kam eine Luxuskarosse durch die Menge herangefahren. Ein paar Soldaten sprangen vom LKW, umringten sie, rissen die Türen auf und zerrten gewaltsam einen dicklichen Oberst heraus, der ein Monokel in die Augenhöhle gekniffen hatte. »Wo willst du hin, du Verräterschwein?«, schrien die Soldaten, ohrfeigten und schüttelten ihn. »Wo ist dein Regiment? Du dachtest wohl, du könntest dich vom Acker machen? Du kommst jetzt mit an die Front, dann darfst auch du auf die Deutschen schießen!« Zwei weitere Offiziere, die aus dem Automobil ausgestiegen waren, versuchten sich davonzustehlen. Doch die Soldaten ergriffen auch sie. »Ihr wollt den Waffenstillstand, ihr Kanaillen? Ihr wollt Frankreich an Hitler verkaufen? Wir werden euch schon beibringen, dass man Frankreich nicht verkauft! An die vorderste Front mit euch, an die vorderste Front!« Und sie hievten die drei übel zugerichteten Gefangenen auf den Lastwagen.
Inzwischen war es Nacht geworden und es begann leicht zu regnen. Der gewaltige Menschenstrom bewegte sich auf Orleans zu, füllte die breite Hauptstraße von einem Straßenrand zum anderen. Aus dem dicht gedrängten nächtlichen Fluss der Menge, die zu Fuß unterwegs war, ragten einige Automobile mit Matratzen und Koffern auf dem Dach und einzelne mit Hausrat, Kindern und alten Leuten hoch aufgepackte Pferdefuhrwerke hervor. Sie fuhren im Schritttempo, wie in einem Trauerkondukt. Die Marschierenden schoben Leiterwagen, Kinderwagen und Schubkarren voll mit unterschiedlichsten Gerätschaften vor sich her; die einen hatten einen Wanderrucksack geschultert, andere sich den Koffer oder Seesack auf den Rücken geschnallt, wieder andere trugen prallgefüllte Einkaufsnetze und Taschen. All diese Schatten, deren Gesichter man in der Dunkelheit nicht ausmachen konnte, waren von den Strapazen gezeichnet. Es war eine finstere, mutlose Menge, ohne Mitgefühl und ohne Hoffnung.
Jeder Familienverband trabte isoliert vor sich hin, stumm und ohne sich um andere zu kümmern. Man hielt einander an der Hand, denn verlor man sich auch nur einen Moment lang aus den Augen, wurde man vom Strom fortgerissen und fand einander nie mehr wieder. So hörte man denn auch ab und an ein zartes oder durchdringendes Stimmchen, manchmal Gebrüll, manchmal Gewimmer - »Mama, Mama!« -, das von einem der tausenden auf diesem ungeheuren Exodus verloren gegangenen Kinder stammte.
Es handelte sich hierbei nicht um die Evakuierung einer einzelnen Stadt oder eines Landstrichs. Wir erlebten vielmehr die Massenflucht ganzer Völkerschaften, die von den zivilen und militärischen Autoritäten ihrem Schicksal überlassen worden waren. Alle waren verwirrt von den widersprüchlichen Nachrichten, die die Fünfte Kolonne in Umlauf gebracht hatte. Jeder hatte nur einen klaren und präzise formulierten Willen: den anrückenden Deutschen zu entkommen. Und die Deutschen von damals waren nicht die Deutschen von heute, die man schlussendlich unter hohem Blutzoll an sämtlichen Fronten besiegen konnte. Es waren die Deutschen, die bislang nur überwältigende diplomatische Triumphe und fantastische militärische Siege gefeiert hatten, die, wo immer sie angriffen, den Durchbruch schafften und unschlagbar und unbesiegt unter dem Nimbus extremer Grausamkeit mit ihren repressiven Methoden ganz Europa unterwarfen.
Von Belgien bis Holland, vom Elsass bis nach Luxemburg, von der Picardie bis zur Ile de France hatten Massen von Arbeitern und Bauern ihre Häuser, Felder und Fabriken verlassen, um sich nicht dem Schrecken der Naziinvasion zu ergeben. Ohne festes Ziel und ohne zu wissen, was hinter ihnen geschah, strömten sie in Richtung Süden. Keine Behörde und keine verantwortliche Organisation (zugegeben, es existierte inzwischen auch nichts mehr dergleichen) erteilte Ratschläge oder gab Direktiven aus. Alle waren müde und hungrig. Die Dörfer und Landstriche, durch die sie kamen, hatten schon lange nichts mehr zu bieten, als hätten hier über Wochen Heuschreckenschwärme gewütet. Wer keinen Proviant mitgenommen hatte, blieb hungrig. Und die Wirte und Händler, die selbst nichts mehr besaßen, verkauften nur mehr Wasser.
Hin und wieder trafen wir auf kleinere Kolonnen mit Militärlastern und Panzerwagen, auf versprengte Artillerieverbände, die am Straßenrand standen und unmöglich gegen diesen dichten, marschierenden Strom ankamen, der auch beim besten Willen nicht weichen und einen Durchgang freimachen konnte. Die Soldaten wetterten aber nicht gegen die Unseligen, die ihnen den Weg versperrten, sondern gegen den Generalstab, die Regierung und alle übrigen Amtsträger. »Verkauft haben sie uns! Verkauft!«, schrien sie. »Sie haben uns an Händen und Füßen gefesselt an die Deutschen verkauft! Man hätte die Feinde im Inneren abschlachten sollen, um uns gegen den Feind von außen verteidigen zu können!«
In Etampes war das Bahnhofsgebäude in ein Lazarett umfunktioniert worden. Es gab viele Verletzte; Männer, Frauen und Kinder, die von zwei oder drei Rotkreuzschwestern versorgt wurden. Nicht weit von uns entfernt hatten die Deutschen von Flugzeugen aus die Flüchtlingskolonne unter Beschuss genommen. Nachdem wir uns von der Hauptstraße in Richtung eines Bahnüberganges entfernt hatten, sahen wir gegen Abend (wir marschierten nun schon seit vierundzwanzig Stunden inmitten dieser erbarmungswürdigen Menge) einen mit Alteisen und Hölzern vollbeladenen Güterzug auf den Gleisen stehen, auf dem sich bereits Trauben verzweifelter Flüchtlinge zusammendrängten. »Wo kommt ihr her?«
»Aus Paris. Vor vier Tagen sind wir abgefahren.«
»Und wohin fahrt dieser Zug?«
»Nach Orleans, so hoffen wir jedenfalls.«
Auch wir stiegen zu und hockten uns zwischen die verrosteten und regennassen Eisenteile. Unter lautem Schlagen der Puffer, unter Rauchwolken und Pfiffen der Lokomotive setzte sich der Zug in Bewegung und fuhr einige hundert Meter vorwärts. Dann blieb er wieder stehen. Die ganze Nacht über legte er nur wenige Kilometer zurück. Gegen Morgen sahen wir, wie sich auf dem Parallelgleis in unserer Richtung ein Personenzug vorantastete, ganz langsam, als fürchtete er, jeden Moment auf zerstörte Schienenstränge zu stoßen. Wir sprangen von unserem Schrotthaufen ab und klammerten uns an den anderen. Er war voll mit Pariser Arbeitern, die ihn eigenmächtig in Besitz genommen und am Abend zuvor in Betrieb gesetzt hatten. Der letzte Zug aus Paris, aus dem schon von den Deutschen besetzten Paris.
In den Gesichtern der Passagiere lag große Verzweiflung. Sie waren bis zum letzten Augenblick in der Stadt geblieben und bereit gewesen, zu den Waffen zu greifen und einen Straßen- und Häuserkampf aufzunehmen. Doch die allgemeine Verwirrung hatte auch den geringsten Versuch, eine Verteidigung zu organisieren, vereitelt.
»Ach, Frankreich! Frankreich!« …
Joyce Lussu:
Weite Wege in die Freiheit. Erinnerungen an die Resistenza
Hg. und a. d. Italienischen von Christa Kofler
Mandelbaum Verlag
286 S., kt., 20,00 €
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