Die Wiege des Kapitalismus

Jannis Milios nimmt die Mär vom spätmittelalterlichen Leistungsträger auseinander

  • Lesedauer: 8 Min.

Der Mythos von der »Privatinitiative«

Der Autor und sein Buch

Die Geburtsstunde der kapitalistische Produktionsweise ist umstritten, auch unter Marxisten. Der Ökonom Jannis Milios lokalisiert sie im Venedig des 14. Jahrhunderts. Er lässt die Diskussion um die Entstehung des Kapitalismus Revue passieren, lehnt aber in der Auseinandersetzung mit Marx, Lenin, Weber, Braudel und Ansätzen der Weltsystemtheorie sowie des sogenannten Political Marxism überkommene Erklärungen ab, die Dialektik von Produktivkraft und Produktionsverhältnis wie eine Geschichtsnotwendigkeit.

Er rekonstruiert mit Rückgriff auf den Begriff aleatorische Begegnung die Geschichte des zufälligen Zusammentreffens von Geldbesitzern und doppelt freien Arbeitern und analysiert die Bedingungen, unter denen diese sich wirkmächtig entfalten konnte. Eine beeindruckende Studie über eine frühe Finanzialisierung und Proletarisierung der Gesellschaft.

Jannis (John) Milios, geb. 1952 in Athen, lehrt Politische Ökonomie an der Nationalen Technischen Universität Athen, gilt als einer der führenden marxistischen Ökonomen Griechenlands und ist Herausgeber der wirtschafts- und staatstheoretischen Vierteljahreszeitschrift Thesen.

Britta Grell, promovierte Politikwissenschaftlerin, arbeitet als Lektorin und Übersetzerin auf dem Gebiet der Sozial-, Arbeitsmarkt-, Migrations- und Stadtpolitik sowie zu Geschichte und Perspektiven sozialer Bewegungen.

In seiner Darstellung der Geschichte Venedigs geht Frederic C. Lane auf die verschiedenen Mythen ein, die den spektakulären Aufstieg der Lagunenstadt begleitet haben bzw. die vielfach bemüht wurden, um diesen zu erklären: die angebliche völlige Selbstständigkeit Venedigs seit seiner Gründung (was schlichtweg ignoriert, dass Venedig lange Zeit dem byzantinischen Kaiserreich unterstand) und das vermeintliche Fehlen von Fehden, Parteienzwist und Spaltungen in der venezianischen Gesellschaft etc. Ich habe mich mit einigen dieser Themen im vorangegangenen Kapitel befasst, in dem Venedigs historische Entwicklung von seiner Gründung bis zu seiner Beteiligung am Vierten Kreuzzug geschildert wird.

Im Folgenden geht es um einen weiteren Mythos, der sich hartnäckiger hält als alle anderen. Er betrifft nicht nur Venedig, sondern findet sich auch in Bezug auf viele andere Stadtstaaten oder europäische Regionen, insofern sie schon früh Mittelpunkt von Handel und Manufaktur waren und daher zu Epizentren der kapitalistischen Entwicklung wurden. Ich meine den Mythos von der entscheidenden Bedeutung von »Privatinitiative« und »Einzelunternehmern« als Trägern einer spezifischen ökonomischen und sozialen »Vernunft«, die nur in einem »freiheitlichen Umfeld« gedeihen und zum »rationalen Antrieb« einer ganzen Gesellschaft werden kann. Luciano Pellicani ist - obwohl durchaus vertraut mit Marx’ Werk sowie mit der Kontroverse unter Marxisten zum »Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus« - ein typischer Vertreter dieser Sichtweise. Er schreibt: »Die Vorstellung, Kapital zu investieren, um das eigene Vermögen zu vergrößern, […] war der herrschenden Klasse fremd. Das galt jedoch nicht für den Newcomer, den mercator. Auf diesen typischen Selfmademan [...] gehen Entstehung und Verbreitung des unternehmerischen Geistes zurück. Sein Hauptmotiv, und in gewisser Weise sein einziges Motiv, war, sich selbst zu bereichern. […] Ein Wunder war geschehen. Mancherorts in Europa, in den von Handel und Produktion geprägten Städten, hatte man die Methode der täglichen Vermehrung von Brotlaiben und Fischen perfektioniert. Dabei handelte es sich um eine friedliche Methode, die im scharfen Gegensatz zu den traditionellen kriegerischen Vorgehensweisen der Piraterie und Plünderung stand.« (Pellicani: Genesis of Capitalism, S. 150 u. 152)

Venedig ist allerdings, genauso wie seine Rivalen Pisa und Genua, mitnichten mit dem Einsatz vor allem friedlicher Mittel an die Spitze der wirtschaftlichen und politischen Macht in Europa gelangt. Ganz im Gegenteil: Schon bei seinen ersten Versuchen, Sprossen auf der Leiter des ökonomischen Erfolgs zu erklimmen und im Adriaraum eine führende Rolle zu spielen, verließ sich Venedig auf den Sklavenhandel mit all den »traditionellen kriegerischen Vorgehensweisen«, die es für diesen Handel bedarf. Venedigs Aufstieg verdankte sich darüber hinaus nicht zuletzt Brandschatzungen und Plünderungen, wie die wiederholten Überfälle auf die benachbarte Stadt Comacchio und deren Zerstörung zeigen (siehe Kapitel 8). Selbst Adam Smith, der »Erfinder« des Konzepts des wirtschaftlichen Individualismus, distanziert sich von der Vorstellung, wonach der ökonomische Erfolg der Stadtstaaten auf der italienischen Halbinsel das Resultat von Anstrengungen einiger weniger »typischer Selfmademen« war, die »den Unternehmergeist verkörpert und verbreitet haben«. Smith schreibt: »In Europa scheinen die italienischen Städte die ersten gewesen zu sein, die sich durch den Handel zu einem hohen Grad von Wohlstand aufschwangen. Italien lag in der Mitte desjenigen Teils der Welt, der damals der gebildete und zivilisierte war. Auch die Kreuzzüge, die doch durch die große Verschwendung von Kapitalien und die Vertilgung der Landeseinwohner, die sie in ihrem Gefolge hatten, die Fortschritte der meisten europäischen Länder notwendig aufhalten mussten, waren dem Aufschwung der italienischen Städte äußerst günstig. Die großen Heere, welche von allen Seiten her zur Eroberung des Heiligen Landes auszogen, gaben der Schifffahrt Venedigs, Genuas und Pisas teils durch den Transport der Heere, immer aber durch Zufuhr der Lebensmittel außerordentliche Aufmunterung. Jene waren gleichsam die Kommissare der Heere, und so wurde die verzehrendste Raserei, die jemals die europäischen Völker befallen hat, eine Quelle des Reichtums für jene Republiken.« (Smith: Wohlstand der Nationen, S. 404)

Außerdem waren zentraler Antrieb und Motor des wirtschaftlichen Aufschwungs Venedigs bestimmt nicht »Privatinitiativen« einzelner raffinierter Mercators oder anderer genialer »Selfmademen« und »besonders risikobereiter« Einzelner. Grundlage des wirtschaftlichen Erfolgs Venedigs war vielmehr das kollektive Handeln einer Patrizierklasse, die seit Beginn des 11. Jahrhunderts einen zunehmend hochgerüsteten maritimen Staat aufgebaut hatte. Sie fungierte als zentrale Koordinatorin und Trägerin einer Vielzahl von »Unternehmungen«, die vor allem der Geldvermehrung dienten: Handel, Piraterie (Diese Form der Seeräuberei, die eng mit anderen staatlich gestützten geldvermehrenden Praktiken verbunden war, unterschied sich völlig von dem Piratenwesen, das sich im 17. und 18. Jahrhundert im atlantischen Raum herausbildete …), Plünderungen, Sklavenhandel und Krieg. Die staatlichen Strukturen Venedigs orientierten sich am Vorbild des zentralistischen Staatsmodells, das der lokale Patrizier vom byzantinischen Exarchat Ravenna übernahm, zu dem Venedig lange Zeit gehört hatte. Venedig hatte »von Byzanz eine Tradition des geeinten Treueverhältnisses gegenüber dem Staat geerbt« (Lane: Seerepublik Venedig, S. 174).

Einen erheblichen Einfluss hatte auch das spezifische venezianische Rechtswesen, in der das Übergewicht des römischen Rechts zum Ausdruck kam - ein weiteres Erbe aus der byzantinischen Vergangenheit des Stadtstaats. Daphne Penna schreibt hierzu: »Ein erster deutlicher Unterschied zwischen Ost und West war die Kontinuität des römischen Rechts in Byzanz. […] Ab dem 8. Jahrhundert bildeten sich im Westen feudalistische Rechtssysteme heraus, die auf der persönlichen Bindung zwischen Fürsten und Vasallen beruhten und die daher für das Grundstücksrecht von Bedeutung waren.« (Penna: The Byzantine Imperial Acts, S. 3) Das entsprechende venezianische Gesetz von 1195 bestand aus Bestimmungen zu den Bereichen »Verfahrensrecht, Familienrecht, Erbrecht und Vermögensrecht sowie Schuld- und Handelsrecht. Auf all diesen Rechtsgebieten ist eine Mischung aus römischem, byzantinischem, germanischem und Kirchenrecht zu erkennen; den stärksten Einfluss hatte jedoch das römische Recht.« (Ebd. S. 6) Die venezianischen Aristokraten handelten als Einzelne und (meist auch) als Kollektiv als Angehörige einer Klasse von Geldbesitzer; zugleich repräsentierten und kontrollierten sie in kollektiver Form den Staat. Im ersten Teil dieses Kapitels werde ich auf diese beiden Facetten der Klassenherrschaft der Patrizier in der venezianischen Gesellschaftsformation eingehen.

Ganz zu Beginn steht eine Darstellung der wichtigsten Merkmale der venezianischen Staatsmacht und ihrer wesentlichen Institutionen.

Staatsapparate, organisiert in Form von »Ausschüssen«, besetzt mit Angehörigen der herrschenden Klasse

Bis Mitte des 13. Jahrhunderts lenkte einer Gruppe von etwa 500 Männern die Geschicke des venezianischen Staats, die alle aus den rund 100 in der Stadt ansässigen Adelsfamilien stammten. Ein beträchtlicher Teil zählte dem »alten Adel« der Großgrundbesitzer an, die restlichen galten als »Zugezogene« und waren mehrheitlich reiche Kaufleute. 20 bis 50 dieser Familien gehörten zu den prominentesten und besaßen ein beeindruckendes Vermögen, bestehend aus Liegenschaften und Geld, auf das sie ihren Status als »Edle« gründeten. Andere behaupteten sogar, von römischen Tribunen abzustammen. Bei einer Bevölkerung von fast 100 000 Menschen war dies ein personell eher schwach besetzter Zentralstaat.

Allerdings existierte eine Reihe von wichtigen lokalen Behörden und Einrichtungen, die den zentralen Staatsapparat unterstützten. Rediker: »In einer dritten Phase, in den Jahren 1650 bis 1760, kam es zur Konsolidierung und Stabilisierung des atlantischen Kapitalismus durch den maritimen Staat und sein spezifisches Finanz- und Schifffahrtssystem, mit dem er Märkte im Atlantikraum eroberte und bediente. Das Segelschiff - das als charakteristische Maschine für diese Phase der Globalisierung steht - vereinte Eigenschaften der Fabrik und des Gefängnisses. Im Gegensatz dazu bauten Piraten eine autonome, demokratische und multiethnische Gesellschaftsordnung auf dem Meer auf. Da diese alternative Lebensweise den Sklavenhandel gefährdete, wurde sie jedoch ausgelöscht.« (Peter Linebaugh/Marcus Rediker: The Many-Headed Hydra. Sailors, Slaves, Commoners, and the Hidden History of the Revolutionary Atlantic, Boston 2001, S. 328)

An der Spitze des venezianischen Staates stand der Doge. Bis Anfang des 11. Jahrhunderts waren in der Tradition des byzantinischen Exarchen sämtliche exekutiven, juridischen und militärischen Befugnisse in seiner Hand konzentriert. Dieses Herrschafts- und Regierungsmodell hatten die Venezianer also nachgeahmt. Die Exarchen, denen der Kaiser von Byzanz eine bedeutende politische, militärische und kirchliche Autonomie und Autorität eingeräumt hatte, weil das Reich bestrebt war, seine Außenposten und abgelegenen Herrschaftsgebiete besser vor ausländischen Invasoren zu schützen, hatten eine monarchistische Regierungsform ausgebildet. »Die Exarchen oder Statthalter, in der Regel Militäroffiziere, kontrollierten nach und nach fast alle administrativen und juristischen Aufgaben und Institutionen und hatten im Exarchat auch das letzte Wort in den kirchlichen Angelegenheiten.« (Alexander A. Vasiliev: History of the Byzantine Empire 324 - 1453, Madison 1952, S. 575)

Im Jahr 1032 wurde die Autorität und Souveränität des venezianischen Dogen dann durch ihm zur Seite gestellte Räte und Richter eingeschränkt. Ab Mitte des 12. Jahrhunderts erhielten diese zuerst nur beratenden Beamten klar definierte Zuständigkeiten und Befugnisse, was ihnen faktisch Macht verlieh, sodass der Doge seine Regierungsautorität von nun an mit ihnen teilen musste. Ab 1143 durfte sich Venedig »Commune Veneciarum« nennen. Die Wahl des Dogen erfolgte, wenigstens offiziell, durch die Allgemeine Volksversammlung (auch Generalversammlung genannt). In der Praxis war es lange Zeit allerdings so, dass nach dem Tod eines Dogen die herrschenden Adelsfamilien über seinen Nachfolger entschieden. Einige wenige proklamierten laut seinen Namen, bevor eine große Menge an Venezianern im Markusdom zusammenkam. Diese Menge - nur dem Namen nach eine »Volksversammlung« - empfing dann den neuen Dogen mit Applaus. » […] während das Volk laut seine Zustimmung ausrief, [sangen] die Geistlichen Te Deum Laudamus und [läuteten] die Glocken des Campanile im Triumph« (Lane: Seerepublik Venedig, S. 147).

Jannis Milios:
Eine zufällige Begegnung in Venedig. Die Entstehung des Kapitalismus als Gesellschaftssystem
A.d. Englischen von Britta Grell
Karl Dietz Verlag Berlin
296 S., kt., 29,90 €

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