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Tee bei Marlene
Eine traumwandlerische Bewegung durch Berlin.
Homeoffice habe ich schon immer gemacht. Deshalb war es keine große Umstellung für mich. Ich belächele bemitleidend die »Neu-Homeofficer«, die statt in hässlichen Jogginghosen nun in hässlichen Jobbinghosen schreiben und darin ihre Videokonferenzen abhalten. Das mache ich nie! Stets arbeite ich frisch rasiert, in elegantem Outfit: Tweedsakko, Seideneinstecktuch und Budapester Schuhe. Ich bin nämlich der festen Meinung, dass man es später einem Text anmerkt, ob der Autor in einer Gabardinehose von Armani oder in einer ausgeleierten Unterhose von Schießer mit Eingriff und Badelatschen seine Zeilen in seinen Klapprechner tippt.
Das einzig Neue für mich ist, dass ich coronabedingt nicht mehr auf Galas und Rote-Teppich-Empfänge eingeladen werde. Die freie Zeit habe ich anfangs im häuslichen Bereich sinnvoll eingesetzt, nämlich zum Beispiel nach gefühlten 30 Jahren das Flusensieb der Waschmaschine gereinigt. Ich verschone Sie, geneigte Leserin und geneigter Leser, mit der ausführlichen Beschreibung von dem, was da alles Unappetitliches zum Vorschein kam! Leider fand ich nicht die Armada von für immer verschwundenen Socken. Wahrscheinlich machen es die Socken in der Waschmaschine wie die Stabheuschrecken, die nach dem Liebesakt ihre Partner einfach auffressen. Nun gut. Zwar ist jetzt mein Haushalt wieder in Schuss, doch mir fehlt einfach die Bewegung. Ich sage es vorweg: Ich hasse Spazierengehen! Ich brauche immer ein Ziel! Mein Freund Günther Krabbenhöft sagte neulich: »Wenn der Lockdown irgendwann mal ein Auslaufmodell werden sollte, muss ich mich unbedingt vom Spazierengehen erholen.«
Erfahrungen und Gedanken zu einer Strafe aus der Jugendzeit und der coronabedingten sozialen Fastenzeit:
- Bei Wasser und Brot: Ein Denkzettel für die Eltern
- Ohne Abendessen ins Bett: Eine Strafe des Bildungsbürgertums
- Tee bei Marlene: Eine traumwandlerische Bewegung durch Berlin
- Soße à la mode asiatique: Wider den Grusel aus der Kindheit
Leider zwingt mich mein Schrittzähler auf dem Handy beharrlich zu mehr Bewegung. Auch ohne Ziel. Denn nur am Zeichentisch und Klapprechner zu sitzen ist auf Dauer nicht gesund. Ich wohne in Westend. Das klingt wie der letzte Ort vor dem Rand der Erdscheibe. Und so ist es ja auch. Das ist Charlottenburg. Also mache ich mich missmutig durch das graue unfreundliche nasskalte Berliner Wetter auf den Weg. Mein Gang führt mich durch eine ehemalige Villenkolonie des 19. Jahrhunderts. Das hat zum Vorteil, dass niemand auf der Straße ist, wie in Kreuzberg oder Prenzlauer Berg, wo es draußen trotz Lockdown von Menschen nur so wimmelt, als wäre Wiedervereinigungstag. Ich glaube, reiche Menschen gehen nicht spazieren, weil sie Angst haben, es könnte ihr schönes Vermögen abhandenkommen. Kaum sind sie aus dem Haus, zack, räumt eine Einbrecherbande ihre Villa aus - bis zum letzten Silberlöffel. Ich bin froh, solche Sorgen nicht zu haben und schlendere vorbei an der Villa, in der die Zeichentrickserie »Benjamin Blümchen« produziert wird. Man glaubt sogar ein leises »Törööö« aus den dicken Mauern zu hören. Meine Stimmung steigt wieder etwas. Weiter geht es entlang langer Baumalleen, die von prachtvollen Gründerzeitvillen gesäumt werden, in denen teilweise Botschaften untergebracht sind, und man wird in die Zeiten vergangener Tage entführt.
Ich schaue in mein Handy und staune, wer hier früher alles gewohnt hat: Stummfilmstar Henny Porten, Maler Emil Nolde, Curd Jürgens, Johannes Heesters, Theo Lingen, Joachim Ringelnatz und so viele mehr. In der Bayernallee komponierte Kurt Weill die Dreigroschenoper. Erfüllt von so vielen großen Namen lande ich traumwandlerisch plötzlich in der Akazienallee, in der Marlene Dietrich eine Zeit lang gewohnt hat. Dort kommt ein junger Mann zaghaft auf mich zu und entschuldigt sich, dass er mich anspreche, aber er sei Filmstudent und suche die Gedenktafel am Haus von Marlene Dietrich. Wir suchen vergeblich, finden sie aber nicht. Ich vermute, dass eine Gedenktafel nur an ihrem Geburtshaus in Schöneberg hängt. Und ihr damaliges Wohnhaus ist längst abgerissen. Zum Abschied meint der junge Mann, ich passe sehr gut in diese Gegend mit meinem Zarenmantel und dem Menjou-Bärtchen. Ich fühle mich ein wenig geschmeichelt, aber auch ein bisschen alt.
Wieder zu Hause zeigt mein Schrittzähler 7476 Schritte. Wow! Auf einmal liebe ich das Spazierengehen und falle am Abend todmüde ins Bett. »Es gehört zum Begriff des Spazierengehens, dass man keinen ernsthaften Zweck damit verbindet«, merkte einst Wilhelm von Humboldt an.
Ich träume, ich bin bei Marlene Dietrich eingeladen. Wir tragen beide Mund-Nasen-Schutz. Es gibt Tee und etwas Gebäck.
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