- Politik
- Hausarrest
Soße à la mode asiatique
Wider den Grusel aus der Kindheit.
Ich habe nie Hausarrest gehabt und wusste früher auch gar nicht genau, was das ist. Ein paar meiner Freundinnen und Freunde bekamen gelegentlich von ihren Eltern Hausarrest »verordnet« oder »auferlegt« - oder wie sagt man? Ich habe mich jedenfalls, wenn sie abgeklärt davon sprachen, sie hätten vergangenen Mittwoch wegen Hausarrests nicht zum Spielplatz kommen können, außerordentlich gegruselt. Bei uns, in unserem sozialdemokratischen Hauptschullehrerhaushalt, gab es so etwas Rückständiges nicht. Ich hatte jedoch eine vage Horrorvision: totale Erstarrung von Zeit und Raum. Der Verlust von allem, was das Leben ausmacht (rausgehen, mit anderen spielen). Aber ich habe nie nachgefragt und wollte darüber lieber nichts Genaueres wissen; genau wie bei meiner kleinen Freundin Christine, wenn sie in gespielter Gleichgültigkeit erzählte, sie wäre soeben von ihrer Mutter, einer riesigen, korpulenten Frau mit Schürze, mit dem Kochlöffel geschlagen worden.
Während ich dies schreibe, köchelt hinter mir auf dem Herd ein Rinderbraten von 700 Gramm Gewicht. Zwei Stunden Kochzeit hat er schon hinter sich; im Laufe der nächsten Stunde werde ich wohl mal hineinpieksen, um zu sehen, ob er für meine Ansprüche schon mürbe und faserig genug geworden ist. Im Prinzip ist es Wahnsinn, eine solche Aktion in einem Ein-Personen-Haushalt zu veranstalten, aber in der Pandemie hat man ja Zeit für stundenlange Experimente, gerade sonntags. Da ich noch ein bisschen Platz im Gefrierfach habe und über genügend Behältnisse verfüge, braucht mir auch nicht langweilig zu werden mit meinem monströs großen Rinderbraten. Drei bis vier Mahlzeiten kriege ich da spielend raus.
Erfahrungen und Gedanken zu einer Strafe aus der Jugendzeit und der coronabedingten sozialen Fastenzeit:
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- Soße à la mode asiatique: Wider den Grusel aus der Kindheit
Langsam stellt sich allerdings die Frage, wie genau ich nun mit der Soße weiterarbeiten soll. Ich hatte mich bereits für Basmatireis als Beilage entschieden, die Möhrenscheiben werde ich in wenigen Minuten in die köchelnde Flüssigkeit geben. Aber soll ich in den köstlichen Sud noch Sahne reinkippen? Eigentlich hatte ich die Soßengrundlage so angelegt, dass ich darauf jetzt sogar verzichten könnte. Der beigegebene Ingwer und die typische Beilage lassen das Gericht auf denkbar geeignete Weise als quasiasiatisch erscheinen, zumal ich nach dem Anbraten des Fleischs mit kleingeschnittenen Zwiebeln und Knoblauch nicht gegeizt habe. Ich könnte also noch ein paar Spritzer Sojasoße hinzufügen sowie den restlichen Chicorée von Dienstag grob schnibbeln und in letzter Sekunde reinwerfen, damit ich so ein Mundgefühl von teils knackigen, teils zerkochten Asia-Gemüsen in dunkler Soße erhalte. Aber ich habe bei den wenigen Braten meines Lebens immer Sahne in die Soße gegossen; ich kann praktisch gar nicht anders kochen.
Andererseits habe ich just in diesem Moment aus lauter Übermut eine zerhackte Piri-Piri-Chilischote in den Bräter geworfen, und es erscheint auf meiner inneren Zunge die Vision einer durchsichtig dunklen, leicht viskosen Soße à la mode asiatique mit einem Geschmack, den ich meinen Gerichten noch nie gegönnt habe, weil ich immer dachte: Jetzt noch einen halben Becher Sahne, dann wird das Ganze noch leckerer, runder, weicher, klassischer!
Als ich, einer plötzlichen Eingebung folgend, einen Spritzer von der irgendwann mal beim Discounter erstandenen »Bring the Pain«-Jalapeño-Würzsoße in den Topf träufele, ist die Sache praktisch entschieden. Aber - jetzt kriege ich Angst. Hat der Spritzer ultrascharfer Jalapeño dem Projekt geschadet, weil er sämtliche vorhandenen Aromen mit der Klinge seiner Schärfe abschneidet, quasi wegrasiert? Oder wird er lediglich, wie ich hoffe und erst in circa einer halben Stunde wissen werde, die Schärfenuancen im Hintergrund verstärken, dem Ingwer gleich, der von Anfang an mitkochen durfte?
Mit anderen Worten: Mit Hausarrest scheint mir das alles nichts zu tun zu haben. Da frage man lieber Leute, die mit anderen zusammengestopft in viel zu engen Wohnungen ausharren müssen, ohne einen vor sich hinköchelnden Braten hinter sich zu haben.
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