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Scharfer Gegenwind für Erdoğan
Tausende Menschen in der Türkei demonstrieren für das Recht der Frauen, vor Gewalt geschützt zu sein
Ein Federstrich unter einem Dekret reichte Präsident Recep Tayyip Erdoğan, um die Türkei um Jahrzehnte zurückzuwerfen beim Schutz von Frauen vor Gewalt. Die türkischen Frauen wollen jedoch die restaurative Politik Erdoğans nicht passiv erdulden. Landesweit gingen sie am Wochenende auf die Straße und forderten: »Nehmt die Entscheidung zurück, wendet die Konvention an!«
Die Istanbul-Konvention war 2011 vom Europarat ausgearbeitet worden. Ziel ist ein europaweiter Rechtsrahmen, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten und zu bekämpfen. Erdoğan selbst hatte die Konvention in Istanbul - dem Ort der finalen Einigung - unterschrieben, damals noch als Ministerpräsident. Frauenorganisationen kritisieren aber auch, dass Gesetze, die auf Basis der Konvention verabschiedet wurden, von Gerichten nicht konsequent umgesetzt wurden.
Der verkündete Ausstieg aus der Konvention bestärke Mörder von Frauen, Belästiger und Vergewaltiger, schrieb die Organisation Frauenkoalition Türkei in einer Stellungnahme. Auch international gab es viel Kritik an Erdoğan Entscheidung. Der Europarat nannte den Rückzug der Türkei aus dem Übereinkommen »eine verheerende Nachricht«. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell forderte die Türkei auf, den Austritt rückgängig zu machen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen erklärte, Frauen verdienten einen starken Rechtsrahmen, um sie zu schützen.
Die deutsche Bundesregierung wählte äußerst zahme Töne und hielt sich mit scharfer Kritik an der Türkei zurück. Sie sprach lediglich von einem falschen Signal an Europa, aber vor allem an die Frauen in der Türkei.
Die türkische Opposition reagierte mit deutlichen Worten: »Sie können 42 Millionen Frauen nicht über Nacht per Dekret ihre Rechte entziehen«, twitterte der Chef der kemalistischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, in einer Videobotschaft auf Twitter. Besonders die Rechtmäßigkeit der Entscheidung wird in Zweifel gezogen: »Nein, der Präsident hat nicht das Recht, mit seiner Unterschrift aus der Konvention auszutreten«, sagte der Anwalt und Abgeordnete der Deva-Partei, Mustafa Yeneroglu, der dpa. Mit dem Dekret wähle der Präsident den Weg kalkulierter gesellschaftlicher Spaltung, sagte der in Deutschland aufgewachsene Yeneroglu. Er ist 2019 aus Erdogans AKP ausgetreten. Für Yeneroglu ist das Vorgehen Erdoğan eine »Machtdemonstration«, mit der er seine religiös-konservative Machtbasis auf sich einschwören wolle, und »die Vorbereitung eines Kulturkampfes«. Selbst ein Regierungsmitglied hegt Zweifel an Erdoğan Schritt: Der Justizminister der AKP, Adbülhamit Gül, twitterte, Austritten aus internationalen Abkommen müsse das Parlament zustimmen.
Erdoğan führt seit Jahren einen Kampf an verschiedenen Fronten, um die Türkei umzukrempeln. Mit dem Rückzug aus der Konvention bedient er seine religiös-konservative Basis, deren gesellschaftlicher Einfluss so stetig wächst. Er tauscht Führungsposten mit Gewährsmännern aus, wie geschehen an der Boğaziçi-Universität zu Jahresbeginn. Auf parteipolitischer Ebene will er die linke, pro-kurdische Oppositionspartei Demokratische Partei der Völker (HDP) per Verbot zum Schweigen bringen und den politischen Artikulationsraum einschränken. Dabei geht der Staat auch gezielt gegen einzelne HDP-Politiker vor. So ist Ömer Faruk Gergerlioglu »im Schlafanzug und in Hausschuhen gewaltsam« festgenommen worden, teilte die Partei am Sonntag mit. Gergerlioglu war wegen vermeintlicher »terroristischer Propaganda« zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Am Mittwoch war ihm die parlamentarische Immunität entzogen worden; am selben Tag leitete die türkische Justiz ein Verbotsverfahren gegen die HDP ein.
Seit 2011 hat sich die Politik Erdoğans radikal gewandelt: Der türkische Präsident ist innenpolitisch auf einem restaurativem Weg und verfolgt außenpolitisch das Ziel, der Türkei eine regionale Hegemonieposition zu verschaffen. Dafür führt er auch Krieg, wie im Nachbarland Syrien. Aktivisten zufolge hat die Türkei wieder Luftangriffe auf kurdische Gebiete in Nord-Syrien geflogen - das erste Mal seit 17 Monaten. Ein türkisches Kampfflugzeug habe am Samstagabend Stellungen des Militärbündnisses Syrische Demokratische Kräfte (SDF) im Dorf Saida nahe Ain Issa bombardiert, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit.
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