Ist Theater das neue Klopapier?

Berliner-Ensemble-Intendant Oliver Reese über Stücke vor getestetem Publikum und künftige Kulturerlebnisse

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.

Herr Reese, die Karten für die zwei Pilotvorstellungen im Berliner Ensemble waren blitzschnell ausverkauft. Ich vermute, Sie sind darüber sehr glücklich. Ist Theater jetzt das neue Klopapier?

Den Spruch mit dem Klopapier merke ich mir. Es macht mich mittelglücklich. Natürlich ist es toll zu sehen, wie groß das Bedürfnis nach Theater ist. Das Aber, und es ist ein gewaltiges Aber, liegt darin, dass wir über die zwei Pilotvorstellungen hinaus noch keinerlei Perspektive für die nähere Zukunft haben. Aber dass es die geben wird, dazu ist der Pilot sicherlich ein wichtiger Schritt.

Oliver Reese

Geboren 1964 in Schloss Neuhaus bei Paderborn, leitet der studierte Literatur- und Theaterwissenschaftler Oliver Reese seit 2017 das Berliner Ensemble (BE). Am Beginn seiner Karriere war er zunächst Regieassistent in München und Düsseldorf. Ab Mitte der 90er Jahre war er fast zehn Jahre Chefdramaturg am Berliner Maxim-Gorki-Theater. Er blieb in Berlin und wechselte Anfang der 2000er ans Deutsche Theater bis er 2009 als Intendant ans Schauspiel Frankfurt am Main ging. Tom Mustroph sprach mit ihm über das Pilotprojekt des Berliner Senats, Kulturveranstaltungen wieder fürs Publikum zu öffnen. Am 19. und 20. März gab das BE »Panikherz« nach einem Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre.

Bei manchen Ihrer Schauspieler*innen war die Vorfreude so groß, dass sie so früh wie schon lange nicht mehr vor Vorstellungsbeginn ins Haus kamen. Benjamin von Stuckrad-Barre, der Autor der Romanvorlage des Stücks, soll voller Glück ausgerufen haben: »Endlich wieder Menschen!«. Mit welchen Emotionen haben Sie die beiden Abende erlebt?

Wenn Sie hören wollen, dass ich völlig außer mir war vor Freude, muss ich Sie enttäuschen. Das liegt vielleicht daran, dass ich als Intendant die ganze Zeit zu sehr mit der Problematik beschäftigt bin: Wie geht es weiter? Ich kann da nicht einfach über zwei Vorstellungen jubeln. Das fände ich schlichtweg naiv. Und mich ärgert auch manches, zum Beispiel, dass ich als Erstes an solchen Abenden in Interviews mit der Frage in die Zange genommen werde: »Aber können Sie denn 100-prozentige Sicherheit garantieren? Und warum gibt es nicht einen Test direkt hinterher?« Da muss man sagen: Leute, ihr habt das Virus nicht verstanden. Denn wenn man hinterher noch mal einen Schnelltest macht, ließe sich bei einem höchst unwahrscheinlichen positiven Ergebnis noch längst nicht sagen, dass die Ansteckung im Theater stattgefunden hat.

Ich spüre eine ganz deutliche Zweiteilung. Es gibt diejenigen, wie unser Publikum, die gejubelt haben. Und erleichtert waren, endlich unter sogar doppelt sicheren Bedingungen mit anderen Menschen eine solche Vorstellung erleben zu können. Und dann gibt es diejenigen, die einem vorhalten: Was erlaubt ihr euch? Aber wir machen ja gerade nichts Fahrlässiges, sondern agieren mit allen Sicherheitsvorkehrungen, um für die Kultur zu kämpfen. Jetzt an Öffnungsszenarien mitzuarbeiten, halte ich geradezu für unsere Pflicht und Aufgabe!

Bei den betreffenden Journalistenkolleg*innen würde ich eine gewisse Überangepasstheit konstatieren.

Das haben Sie gesagt.

Ich deute Sie nur. Wie war das Prozedere des Pilotprojekts genau? Wie wurde getestet? Welche anderen Maßnahmen gab es?

Wir durften im September und Oktober ja auch schon unter Pandemiebedingungen spielen. Da haben wir geübt, wie das ohne Testung geht. Die damaligen Maßnahmen wurden jetzt wieder angewendet. Die Belüftungsanlage fährt auf Volllast. Sie schafft bei uns einen kompletten Luftaustausch drei Mal pro Stunde. Dann gibt es Maskenpflicht am Platz, ein sehr differenziertes Einlassmanagement, keine Pause, keine Gastronomie.

Mit dem Testen kam ein zweites, zusätzliches Sicherheitsnetz hinzu. Zum Einheitspreis von 20 Euro pro Karte war ein Coronaschnelltest inclusive, der vom Senat bezahlt wurde für das Pilotprojekt. In einem der fünf kooperierenden Testzentren konnte man diesen Test durchführen. Und man wurde auch nur hereingelassen, wenn man den negativen Test vom gleichen Tag vorweisen konnte, dazu die personalisierte Eintrittskarte und den Personalausweis. Es gab keinen einzigen positiven Fall.

Wie groß war die Testgruppe?

Bei uns waren es bei zwei Vorstellungen jeweils 350 Zuschauer, also insgesamt 700 Personen. Und die Karten waren binnen vier Minuten ausverkauft.

So kann es weitergehen, oder?

Ja, genau.

Wie geht es aber weiter?

Das Ganze wird jetzt genau zusammen mit unabhängigen Kräften beim Senat für Kultur ausgewertet. Ich hoffe natürlich, dass danach das Modell in Serie gehen kann. Nicht nur in Berlin.

Nun hätte man das ja bereits im Herbst machen können, vorausgesetzt, der Markt hätte ausreichend Schnelltests zur Verfügung gestellt, die Verwaltung hätte sie geordert und die Politik den Segen dazu gegeben. Wie frustrierend ist für Sie die verlorene Zeit?

Ganz schön frustrierend, wir können ja seit Monaten nicht mehr unserer Aufgabe nachkommen. Als besonders unzureichend empfinde ich und auch viele andere Theaterleiter die so unglaublich grobe Klassifizierung, bei der die Kultur einfach nur in andere Schubladen gepackt wird.

Die Bedingungen in einem Theater sind ganz anders als in einem Restaurant. Ich will nun wirklich nichts gegen die gebeutelten Restaurants sagen. Aber da sitzt man sich ein, zwei Stunden ohne Maske gegenüber. Das ist mit der Situation in einem Theater nicht zu vergleichen, dennoch werden wir bei Öffnungsszenarien einfach gleich behandelt. Man muss die Kultur für sich und viel differenzierter betrachten, wie zum Beispiel in Spanien. Dort gibt es keine generelle Regelung, sondern jedes Haus wird einzeln betrachtet nach konkreten Kriterien wie Raumgröße und Luftaustausch. Die Oper in Madrid konnte seit Juni mit 60-prozentiger Auslastung spielen - ohne einen einzigen Fall von Ansteckung.

Was sind Ihre Forderungen an die hiesige Politik?

Die wichtigste wäre, die Kernaussage des unter Federführung des Gesundheitsökonomen Florian Kainzinger erstellten Konzepts »Rückkehr von Zuschauern in Kultur und Sport« ernst zu nehmen. Man muss die Öffnung von Kultur von den festen Inzidenzwerten entkoppeln. Denn Inzidenzwerte sind nicht planbar, und sie werden politisch verschoben. 50 ist das alte 100, 35 das neue 50, wird dann wieder zu 100, und wenn man 30 Kilometer weiter fährt, vielleicht zu 200. So kann man Kultur nicht planen. Man muss sich ganz differenziert in den einzelnen Häusern angucken, was dort geht und was sicher ist. Also ein Modell wie in Spanien.

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