Ein Spiel zur Reanimation

Berlins Sport testet mit Erfolg ein erstes Hallenevent vor Fans seit dem Herbst

Es fühlt sich auch dieses Mal an wie ein Stich mitten rein ins Gehirn. Der Mann im weißen Ganzkörper-Schutzanzug, der mir gerade einen Wattestab tief in die Nase führt, versucht, mich zu beruhigen. »Nur noch ein kleines Stückchen, ist ja gleich geschafft«, sagt er, als wäre ich ein Kleinkind. Dabei bin ich 1,90 Meter groß und habe längst die 40 überschritten. Doch er merkt, dass ich die Augen zusammenkneife und zurückweiche. Es ist nicht mein erster Coronatest dieser Art, und doch trifft er mich unvorbereitet.

An diesem Mittwochnachmittag bin ich eins von 1000 freiwilligen Versuchskaninchen in der Berliner Max-Schmeling-Halle. In gut drei Stunden soll hier eine deutsche Premiere beginnen: die erste Sportveranstaltung seit dem Herbst vor Zuschauern in einer Halle. Alle Fans, Betreuer, Spieler und Medienvertreter werden davor getestet. Ich hatte auf den neuartigen Speicheltest gehofft, von dem ich zuvor gehört hatte. »Wenn das zuverlässig funktionieren würde, wären wir schon längst nicht mehr hier«, sagt der Mann in Weiß und führt den Wattestab in ein Plastikröhrchen. »Scannen Sie in 20 Minuten den Code auf ihrem Armband ein! Dann zeigt Ihnen Ihr Handy das Ergebnis an.«

Im frisch eingerichteten Testzentrum in einer Nebentrainingshalle gibt es insgesamt 15 Kabinen wie die, in der ich gerade saß. Um 15.30 Uhr bin ich der einzige »Patient«. 90 Minuten später sind alle Kabinen voll. Jeder Besucher musste beim Ticketkauf gleich noch einen Termin dazubuchen - und wird nun binnen zehn Minuten getestet. Nur mit negativem Resultat darf man sich das Spiel dann auch ansehen. Durch die Terminvergabe können lange Schlangen tatsächlich verhindert werden, selbst wenn sich nicht alle Zuschauer penibel daran halten. Aber es kommen an diesem Tag auch nur 1000 Leute und nicht 8000 wie früher, wenn die Berlin Volleys im Halbfinale um die deutsche Meisterschaft spielen.

Birgit und Eckhard Eichhorst sind zwei von ihnen und sind schon gut zwei Stunden vor Anpfiff im Testzentrum. »Das war mein erster Coronatest«, sagt Eckhard. »Eigentlich warten wir ja auf die Impfung, sodass wir keinen Test mehr brauchen, aber es ist noch keine Einladung gekommen«, erklärt der 71-Jährige. Doch selbst mit Impfung hätte er heute getestet werden müssen, denn das ist Teil des Pilotprojekts, von denen es im Berliner Sport drei geben soll: in der Max-Schmeling-Halle, dazu in der Arena am Ostbahnhof, wo Alba Basketball und die Eisbären Eishockey spielen, und das Stadion An der Alten Försterei, die Heimstätte des Fußball-Bundesligisten 1. FC Union Berlin. Termine für die letzten beiden Projekte gibt es allerdings noch nicht.

Trotz der Coronatests, die mehr als sieben Stunden vor Spielbeginn starten, ist das Tragen von Masken auch in der Halle Pflicht. Abstände und Hygieneregeln müssen ebenfalls eingehalten werden, mehr als zwei Menschen dürfen nicht nebeneinander sitzen. Sie sollen zudem privat mit dem Rad oder im eigenen Auto kommen. Rund um die Max-Schmeling-Halle gibt es zwar kaum Parkplätze, doch der öffentliche Nahverkehr mit den naheliegenden Stationen von Straßen-, U- und S-Bahn soll durch die Veranstaltung nicht zum Hotspot werden.

Die beiden Rentner Birgit und Eckhard tragen Orange: Sie einen Schal, bei ihm lugt das T-Shirt unter dem Pullover hervor. Sie sind offensichtlich Fans der Berlin Volleys, wie so viele hier. »Ich habe eine E-Mail vom Verein erhalten, dass zu diesem Spiel wieder Zuschauer kommen können. Also habe ich gleich versucht, Tickets zu ergattern, denn wir sehen gerne Volleyball«, sagt Birgit.

Erst beim zweiten Versuch hatten sie Glück. Dann aber gleich richtig: »Wir haben Plätze im Promiblock bekommen, da haben wir noch nie gesessen.« Die Vorfreude, mal wieder dabei zu sein und etwas zu erleben, sei riesig, sagt sie, denn die schlechten Übertragungen der Pay-TV-Sender hätten sie in den vergangenen Monaten doch sehr verärgert.

Bedenken, dass dieser Probelauf mit 1000 Menschen in einem geschlossenen Raum bei auch in der Hauptstadt steigenden Inzidenzwerten gefährlich sein könnte, haben beide nicht. »Vorsorge ist getroffen, und da verlassen wir uns drauf. Wir sind auch jeden Tag in Berlin unterwegs. Wir fahren Bahn, wir laufen auf der Straße eng an anderen Leuten vorbei. Man kann sich doch nicht verstecken und in der Wohnung versauern. Sicherer als hier geht es doch gar nicht«, meint Eckhard Eichhorst und hofft ganz nebenbei auf einen positiven Effekt seines Besuchs: »Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Heimfans auch den Sportlern helfen werden. Wir werden richtig Radau machen.«

Schon vor Spielbeginn zeichnet sich für die Berlin Volleys tatsächlich ein Erfolg ab. Alle 1000 Coronatests des Tages fallen negativ aus. Da bundesweit derzeit acht Prozent aller Proben positiv sind, bislang aber fast ausschließlich Kontaktpersonen von Infizierten oder Menschen mit Krankheitssymptomen untersucht werden, können auch die Pandemieforscher derlei Daten nutzen, um Rückschlüsse auf die tatsächliche Verbreitung des Virus zu ziehen. Auch aus diesem Grund hat der Berliner Senat die Pilotprojekte in Kultur und Sport zugelassen.

Einen großen Lerneffekt erhoffen sich vor allem die anderen Sportvereine. Vertreter vom deutschen Basketballmeister Alba Berlin sind ebenfalls in der Halle. Dessen Saison wird noch bis in den Mai andauern, dann könnten Erfahrungen dieses Pilotprojekts sehr nützlich werden, um Fans in die eigene Arena einzuladen.

»Das soll ein Türöffner sein. Alles andere hängt natürlich von der Entwicklung der Pandemie ab. Wenn die Zahlen weiter steigen, wird man darüber gar nicht diskutieren. Aber wenn es vertretbar ist, können wir und andere solche Lösungen anbieten«, sagt Kaweh Niroomand, Geschäftsführer der Berlin Volleys. Etwa eine Stunde vor dem Spiel habe Niroomand schon geahnt: »Das Risiko hat sich gelohnt. Zu diesem Zeitpunkt sollte eigentlich der größte Andrang kommen, aber alles lief entspannt: keine Software-Fehler, kein Gedränge, kein Gemecker. Alles hat sehr gut geklappt«, freut er sich am späten Abend.

So war es am vergangenen Wochenende auch beim Fußball-Drittligisten Hansa Rostock. Der will nach seinem erfolgreichen ersten Test mit 777 Fans beim nächsten Heimspiel sogar 3000 ins Ostseestadion bringen, wenn die Politik zustimmt. Das tut sie nicht überall. Auch Fußball-Bundesligits RB Leipzig hätte im Spitzenspiel gegen den FC Bayern München am 3. April gern Fans im Zentralstadion zugelassen, doch Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) erteilte dem Ansinnen eine klare Absage: »Momentan ist es völlig illusorisch, in Sachsen und Leipzig vor Zuschauern zu spielen. Das ist in den nächsten Wochen nicht denkbar.« Interessanterweise ist die Inzidenz in Leipzig derzeit niedriger als in zehn der zwölf Berliner Bezirke. Und so weiß auch Volleys-Manager Niroomand, wann es gilt, auf die Bremse zu treten: »Selbst wenn mit unserem Hygienekonzept auch 4000 Leute hier reinkönnten, werden wir nur das machen, was die Bevölkerung akzeptiert. Was wir machen, muss eine Lösung für unsere Probleme sein und auf das Verständnis der Menschen treffen.«

Die Chance auf ein weiteres Heimspiel in der Finalserie hat sich seine Mannschaft jedenfalls erhalten. Die Volleys gewinnen gegen Düren schließlich mit 3:1 und erzwingen somit ein entscheidendes drittes Duell um den Finaleinzug beim selben Gegner. Benjamin Patch, der mit 30 Punkten überragende Spieler des Abends, weiß danach, bei wem er sich zu bedanken hat: »Es war so verrückt. Die Saison war hart, und plötzlich bekommen wir einen Extraschub Energie von unseren Fans. Jetzt habe ich wieder etwas, auf das ich mich freuen kann«, sagt der Angreifer der Volleys.

Doch auch für die Menschen auf den Rängen sei der Abend wichtig gewesen, meint der US-Amerikaner. »Wir dürfen die mentale Gesundheit der Leute nicht vernachlässigen. Soziale Interaktionen sind so wichtig, um sich wohlzufühlen, doch wir alle sind seit einem Jahr isoliert voneinander. So eine Veranstaltung hilft, die Leute wieder miteinander zu verbinden. Man fühlt sich wieder als Teil von etwas. Das macht eine Gesellschaft aus. Also sollte das ein Signal an die Regierungen sein, dass wir die ganze Sache wieder in Gang bringen«, so Patch.

Schon beim Warmmachen hatte er wie auch seine Mitspieler ein Lächeln nicht aus dem Gesicht bekommen. Die Akteure werden mit Jubel und Geschrei begrüßt, mit lauten Ratschen und Klatschpappen. Auch wenn die Volleyballer so etwas von früher kennen, merkt man ihnen an, dass sie sich an die Einsamkeit gewöhnt hatten. Sie winken, lachen und klatschen im Takt der Musik. Der Hallen-DJ spielt Coldplays Song »Adventure of a Lifetime«, der wie eine Hymne zu diesem Abend passt: »I feel my heart beating / You make me feel like I’m alive again.« Ein simples Volleyballspiel als Reanimationsmaßnahme.

Auch Eckhard Eichhorst fühlt sich nach dem Sieg lebendig wie lange nicht: »Das war super. Ich sagte ja, dass wir Fans zum Sieg beitragen werden«, freut er sich. »Hoffentlich können wir zum Finale wiederkommen.«

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