- Politik
- Märzaktion 1921
Verdrängtes Desaster
Warum sind die Märzkämpfe von 1921 nie in das kollektive Gedächtnis der Linken eingegangen?
Eine filmreife Kriminalgeschichte: Am Morgen des 13. März 1921 entdeckten Passanten, die sich die Berliner Siegessäule anschauen wollten, dort einen braunen Karton mit dem Aufdruck »Dr. Oetkers Saucenpulver«. Er enthielt ein ganz anderes Pulver: sechs Kilogramm Dynamit. Allein das Versagen des Zeitzünders hatte die Explosion verhindert. Wer war für die Aktion verantwortlich?
Die Polizei vermeldete, auf der Zündkapsel stehe der Aufdruck »Anhaltinische Sprengwerke«. Ein Hinweis auf Mitteldeutschland, genauer: auf den Regierungsbezirk Merseburg. Deutschlands unruhigste Gegend in jener Zeit: industriell hochentwickelt - Bergbau, Stahl- und Chemieindustrie -, mit einer langen, militanten Klassenkampfgeschichte, Zuzugsregion von entwurzelten, aus dem Elsass vertriebenen Westdeutschen und heimatlosen Frontsoldaten, für die Gewalt jahrelang der Alltag gewesen war. Die Geheimpolizei warnte seit Jahresbeginn vor einem kommunistischen Aufstand, bereits im Februar herrschte in vielen Gemeinden der polizeiliche Ausnahmezustand. Lokale wilde Streiks waren an der Tagesordnung - und nicht zuletzt Sprengstoffanschläge, die von den Brigaden des Arbeiterguerillaführers Max Hoelz (1889-1930) verübt wurden. Jetzt also der Anschlagsversuch in Berlin.
Ostdeutsche Historiker haben 1956 den Dynamitfund an der Siegessäule der preußischen Polizei zugeschrieben: ein Akt der Provokation, um den Einmarsch der »Sicherheitspolizei«, de facto des Militärs, in die aufständischen Industriebezirke zu legitimieren - und das war ja auch der Fall! Am 19. März begann die Besetzung Mitteldeutschlands, am 21. März riefen die in der dortigen Arbeiterbewegung dominierenden kommunistischen Kader sichtlich überrumpelt den Generalstreik aus. Die heiße Phase des Mitteldeutschen Aufstandes begann.
Max Hoelz, Anführer der Arbeiterguerilla
Tatsächlich scheint es Lücken in der Indizienkette der Polizei zu geben. Fakt ist aber auch: In einer Polizeiaktion wurden am 21. März in Berlin elf Personen im Zusammenhang mit dem missglückten Anschlag festgenommen, davon einige aus dem Umfeld der KAPD, der linken KPD-Abspaltung. Der Historiker Werner T. Angress, dessen Schilderung der Ereignisse wir hier folgen (»Die Kampfzeit der KPD 1921-1923«), geht davon aus, dass keine größere Organisation hinter dem Anschlag stand, sondern die Arbeiter auf eigene Faust handelten. Interessant in diesem Zusammenhang ist der angebliche Kopf der Verschwörer, der als Ferry auftrat - er gehörte nicht zu den Festgenommenen und sollte auch nicht mehr auftauchen. Einer der Angeklagten hat ihn später als Max Hoelz identifiziert. Hoelz - mal wieder!
Wie auch immer man den gescheiterten Anschlag deuten mag, man kann zumindest feststellen, dass er sich nahtlos in die verworrene Geschichte der Märzkämpfe fügt. Auf Seiten der Arbeiter überlagerten, kreuzten und verknäulten sich Kampfformen und Konfliktlinien, die unweigerlich zur Selbstblockade führen mussten und schließlich zur Selbstzerstörung des radikalen Flügels der deutschen Arbeiterbewegung. Wie stellte sich diese Konfusion auf Seiten der Arbeiter dar? Peter Utzelmann (1896-1972), die wohl bedeutendste Gestalt unter den Anführern des Streiks in den Leuna-Werken, wusste nichts davon, dass in Berlin KPD und KAPD einen gemeinsamen Aktionsausschuss gebildet hatten. Folglich war ihm nicht bekannt, dass zur Koordination der Kämpfe Aktivisten aus Berlin, darunter der Schriftsteller Franz Jung, geschickt worden waren. Was er aber wusste: eine direkte militärische Konfrontation mit den Polizeikräften konnten die Arbeiter, selbst dort, wo sie bewaffnet waren, nur verlieren.
Peter Utzelmann und der soziale Krieg
Utzelmann votierte für den sozialen Krieg, für Massenstreiks und Betriebsbesetzungen. In den Leuna-Werken, wo 25 000 Arbeiter in den Ausstand traten, gelang dies auch. Eine ganz andere Taktik verfolgte Max Hoelz - er suchte die militärische Konfrontation, was Utzelmann entschieden und polemisch kritisierte. Hätte Hoelz sich damals auf das Werksgelände getraut, er wäre über den Haufen geschossen worden, grollte ihm Utzelmann noch Jahrzehnte später. Hoelz und die mit ihm assoziierten Brigaden erzielten sogar lokale Erfolge, die sich aber nicht mit der Streikbewegung verknüpften. Kurzum: Die Kämpfe blieben voneinander isoliert. Erst recht trifft das auf die wenigen überregionalen Solidaritätsaktionen zu, die zur Verbreiterung des Aufstands auf ganz Deutschland hätten beitragen sollen. In den Betrieben waren die Kommunisten häufig isoliert.
Doch wie kann es sein, dass in einer hochindustrialisierten Region mit einem klassenkampferprobten Proletariat ein Aufstand nicht bloß schnell zerfällt, sondern von Anfang an nicht kohärent gewesen ist? »Der Marxismus ist nicht die Lehre von den Revolutionen, sondern die Lehre von den Konterrevolutionen: Alle wissen sich zu bewegen, wenn sich der Sieg abzeichnet, jedoch nur wenige wissen dies zu tun, wenn die Niederlage kommt, sich kompliziert und andauert«, lautet ein bekanntes Zitat Amadeo Bordigas, dem eigentlichen Gründer der Kommunistischen Partei in Italien. Damit hält er die Erfahrungen der Revolutionen und Arbeiteraufstände seit der Pariser Kommune fest: Sie geschehen wie von selbst, sind für die Kräfte des Militärs und der Bürokratie unabsehbar und zunächst unberechenbar.
Geordneter Rückzug
Aufgabe der Kommunisten ist es nicht, die Revolution »zu machen«, sondern die Truppen beieinander zu halten, wenn es zu einer Niederlage kommt. Der geordnete Rückzug ist stets die schwierigste Operation. Der Marxismus erklärt nicht die Revolution - niemand, der auf die Straße geht oder in den Streik tritt, um unhaltbaren Zuständen ein Ende zu setzen, braucht Belehrung von Funktionären oder Theoretikern -, sondern die Konterrevolution: Wie tief reicht die Niederlage? Was sagt sie über das gesellschaftliche Kräfteverhältnis aus? Unter welchen Bedingungen ist mit einem Wiedererstarken der revolutionären Kräfte zu rechnen?
Bei den Märzkämpfen verhielt es sich, plakativ gesagt, anders herum, und darin liegt ihre Tragik. Die Mehrzahl der Kommunisten, ob ganz links oder schon moskauhörig, war sich im Frühjahr 1921 sicher, ihre Revolution generalstabsmäßig durchführen zu können. Damit begaben sie sich auf das Terrain von Polizei und Militär. Ihre Politik war konspirativ, hatte Züge einer Geheimwissenschaft angenommen, setzte auf heroische Akte einzelner Akteure. Indem KPD und KAPD in ihrer putschistischen Hochspannung die Bereitschaft zum großen proletarischen Aufstand überschätzten, lieferten sie die vorhandenen Energien zur proletarischen Gegenwehr einer militärischen Konfrontation aus. Sie hatten keine Exit-Strategie.
Beide Parteien zerbrachen letztlich an der gescheiterten Märzaktion, die eine - KAPD - binnen weniger Monate, die andere - KPD - blieb als formale Organisation bestehen, doch verkümmerte sie schnell zur Außenstelle Moskauer Politik. Aus sich selbst heraus war sie in den Folgejahren immer weniger zur eigenständigen Initiative in der Lage. Eine systematische Aufarbeitung dieser Katastrophe fand in kommunistischen Kreisen nicht statt (während die Polizei ganz genau hinschaute). Die bekannteste literarische Darstellung der Ereignisse, »Die Eroberung der Maschinen« (1923) von Franz Jung, bezeichnenderweise einer der Draufgänger der März-Tage, weicht allerdings von der verengenden Parteiperspektive ab: Sein Anti-Roman beschreibt die kollektive Bewegung der Klasse, das Aufflammen und Niedertreten der Revolutionsversuche, er verzichtet konsequent auf Helden und Namen.
Das Gedächtnis der Linken
Abgesehen von Hoelz-Anekdoten und einer rührigen lokalen Gedenkkultur ist der mitteldeutsche Aufstand nie in das kollektive Gedächtnis der Linken eingegangen. Das unterscheidet ihn von der Pariser Kommune, deren Jahrestag in diesen Wochen ebenfalls begangen wird. Auch der Aufstand der Kronstädter Matrosen gegen die sich abzeichnende Alleinherrschaft der Bolschewiken ist weit bekannter. Paris gilt als die erste proletarischer Revolution der Neuzeit - noch in aller Unschuld und voller utopischer Fantasie und Lebensfreude; die Kronstädter hatten den Mut der Verzweiflung auf ihrer Seite, der Respekt abnötigt.
Das Desaster in Mitteldeutschland scheint dagegen ausschließlich traumatisch gewesen zu sein. Es ist eine Niederlage des Proletariats in einem durch und durch industrialisierten, »rein« kapitalistischen Umfeld. Gerade deshalb hätte man sich ihr stellen müssen, auch für folgende Kämpfe. Die wichtigste Lehre dieser Niederlage war doch offensichtlich: Die Annahme einer allwissenden Parteistrategie hatte sich als Hybris erwiesen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.