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Gesucht wird einer, der es regelt

Sozialpsychologe Oliver Decker über Autoritarismus, Antisemitismus und die Bedrohung der Demokratie

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 6 Min.

Herr Decker, an der Universität Leipzig erforschen Sie und Ihr Team seit 20 Jahren antidemokratische und rechtsextreme Einstellungen. Was hat sich in jüngster Zeit verändert?

Ein Befund ist, dass sich die unterschiedliche Entwicklung von Ost- und Westdeutschland fortsetzt. Unterbrochen nur durch die Finanzkrise vor gut zehn Jahren gab es im Westen einen stetigen Rückgang rechtsextremer Einstellungen, im Osten haben wir unverändert ein höheres Niveau. Ein anderes bedeutsames Ergebnis der letzten Befragung ist der stärkere Glaube an Verschwörungstheorien.

Zur Person

Oliver Decker ist Professor für Sozialpsychologie und interkulturelle Praxis an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Berlin und Direktor des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus und Demokratieforschung an der Universität Leipzig. Schon seit 2002 untersucht dort ein Forschungsteam rechte und rechtsextreme Einstellungen.

Ihre Untersuchungen heißen seit 2018 »Leipziger Autoritarismus-Studien«, zuvor wurden sie als »Mitte-Studien« bezeichnet. Was war der Grund für die Umbenennung?

Als wir 2002 begonnen haben, standen wir wie auch Wilhelm Heitmeyer mit seiner Reihe »Deutsche Zustände« noch unter dem Eindruck dessen, was man heute etwas flapsig die »Baseballschläger-Jahre« nennt. Gemeint sind die massiven Pogrome und Gewalteskalationen gegen Zugewanderte nach 1990. Das war aber kein rein ostdeutsches Phänomen: Solingen zum Beispiel, wo es bei einem Brandanschlag zu acht Toten kam, liegt bekanntlich im Westen. Die Nazis, die sich damals vor der Kamera zu Wort meldeten, vermittelten immer den Eindruck, sie exekutierten den Volkswillen. Zu viele Zuschauende nickten heimlich mit dem Kopf, besonders drastisch war das in Rostock-Lichtenhagen.

Wir haben deshalb damals untersucht, wie weit rechtsextreme Haltungen in die gesellschaftliche Mitte hineinreichen. Und festgestellt, dass gerade das Ressentiment gegen Migranten, die sogenannte Ausländerfeindlichkeit, weit verbreitet ist. Es handelt sich um einen Sockelwert von einem Viertel der Deutschen, im Osten ist es sogar ein Drittel. Wir wollten die Fiktion auflösen, die im Extremismus-Begriff angelegt ist, man kann ihn eben nicht auf die Ränder begrenzen. Als dann nach 2015 ein sprunghafter Anstieg zu verzeichnen war und diese Einstellungen bei noch mehr Menschen zu Taten führten, war uns klar: Jetzt brauchen Sozialwissenschaftler keine Warnhinweise mehr aufstellen, das Phänomen war offensichtlich. Daher haben wir uns entschieden, bei der Titelgebung stärker die Analyse zu betonen. Ein klassischer Begriff in diesem Kontext ist die »autoritäre Dynamik«.

Sie kommen aus der Sozialpsychologie. Welche psychischen Ursachen haben autoritäre Einstellungen?

Wenn wir das einzelne Individuum betrachten, dann geht es vor allem um Aggression. Es entsteht Wut auf der Basis einer Fantasie, dass sich bestimmte Gruppen etwas herausnehmen, das man sich selber nicht gestattet. Es entsteht Hass auf jene, die sich angeblich nicht an die Regeln halten, denen man sich selbst - nicht selten bedingungslos - unterwirft. Wir sprechen hier ganz klassisch von Projektion. Die vom Ressentiment Betroffenen können wechseln, mal sind es die Migranten oder Sinti und Roma, mal Juden.

Die Unterwerfung, und das gehört ebenso zum Autoritarismus, erfolgt nicht unter Zwang. So ambivalent die Beziehung zur Autorität bleibt, sie wird von vielen sogar gesucht. Autoritäten dienen dann dazu, Schutz zu suchen bei Leuten, die sagen, wo es lang geht. Wladimir Putin war eine solche Figur bei den Pegida-Demonstrationen, in der Coronakrise war es eine Zeit lang Markus Söder, der den harten Hund gab und die Hoffnung weckte, dass da jemand ist, der es »regelt«. Wenn das nicht mehr funktioniert, wird die Sicherheit und der Wunsch nach Kontrolle in Verschwörungserzählungen gesucht.

In dieser Wahnkonstruktion ist klar, wo der Gegner sitzt. Man hat jemanden, gegen den man arbeiten muss, das bietet ein paradoxes Gefühl von Handlungsmacht. Eine Erkenntnis unserer aktuellen Studie ist dabei, wie eng Verschwörungskonstrukte und Antisemitismus zusammenhängen.

Beim Anschlag auf die Synagoge in Halle starben zwei Menschen - nur eine Sicherheitstür verhinderte, dass es erheblich mehr waren. Wächst die Gefahr eines neuen Judenhasses in Deutschland?

Die Tür der Synagoge ist in gewisser Weise ein Symptom. Der schon vor dem Anschlag geäußerte Wunsch nach besserem Schutz wurde in Halle von den Behörden nicht erfüllt. Dass es diese gut abgesicherte Tür überhaupt gab, ging auf internationale Vereine zurück, die jüdische Gemeinden finanziell unterstützen. Diese Tür hat Leben gerettet, nicht weil vor Ort eine besondere Sensibilität herrschte. Ganz im Gegenteil, die Landesregierung von Sachsen-Anhalt hat das Problem im Vorfeld des Attentats eher bagatellisiert.

Das ist eine niedrigschwellige Ausdrucksform des Antisemitismus, da gibt es häufig Umwegkommunikationen. Zentral ist das sogenannte »Othering«, die Besonderung: Juden und Jüdinnen werden damit konfrontiert, dass sie eigentlich nicht zu Deutschland gehören. Solche Erfahrungen des »Du gehörst hier nicht her!« zeigen das zähe Fortleben des Ressentiments. Eine neue Ausdrucksform ist der »israelbezogene« Antisemitismus, der auch in bestimmten migrantischen Milieus geteilt wird.

Sie diagnostizieren eine besondere Zunahme des »Ethnozentrismus«. Was verstehen Sie darunter?

Den Begriff Ethnozentrismus gibt es schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts, schon vor Nazi-Deutschland war er Gegenstand der Forschung. Ein Element ist der Chauvinismus, die Haltung »Die Deutschen sind anderen Nationen überlegen«. Dem gegenüber stehen die »Fremden«, durch deren aggressive Abwertung lässt sich das Eigene stark machen. Es handelt sich um eine Art Einstiegsdroge in den Rechtsextremismus, um ein Scharnier zwischen radikaler Rechter und der Mitte der Gesellschaft.

Der Attentäter von Hanau tötete gezielt Deutsche mit Zuwanderungsgeschichte. Hat die Islamfeindlichkeit zugenommen?

Die antimuslimischen Ressentiments sind sehr groß. Wir sehen seit unserer letzten Erhebung keinen erneuten Anstieg, durch die Pandemie geriet das Thema politisch in den Hintergrund. Das bedeutet aber nicht, dass es verschwunden ist. Zum Beispiel fühlt sich nach unseren Befragungen mehr als die Hälfte der Ostdeutschen wegen der Muslime als Fremde im eigenen Land. Diese Einstellungen sind nicht an konkrete Erfahrungen geknüpft, im Gegenteil. Der Hass auf Migranten ist dort am niedrigsten, wo die meisten von ihnen leben, in den westdeutschen Großstädten. Je mehr Kontakt man hat, umso schwieriger wird es, das Ressentiment aufrechtzuerhalten. Die Erfahrung steht immer dem Hass entgegen.

Beunruhigen Sie die »Hygiene-Demonstrationen« und der Glaube an »alternative Fakten«?

Das größere Bedürfnis nach Verschwörungserzählungen ist sehr sichtbar. Es kursiert zum Beispiel die Idee, dass die wahren Hintergründe nicht offengelegt werden - oder dass einige wenige wie der Microsoft-Gründer Bill Gates mit der Krise Geschäfte machen. Solche Aussagen erhielten hohe Zustimmungswerte. Dahinter steckt der Wunsch, die Welt mit einfachen Erklärungen weniger komplex und damit weniger gefährlich zu machen. Die Hygiene-Demos beunruhigen mich insofern schon.

Ein Teil der Demonstrierenden kommt eher aus dem alternativen Milieu, das sind Esoteriker oder Heilpraktikerinnen, Menschen, die eine abergläubische, gegen die Moderne gerichtete Weltsicht haben. Es handelt sich sozusagen um eine noch nicht politisierte Verschwörungsmentalität mit antiaufklärerischen Deutungsmustern. Natürlich ist nicht jeder, der zum Heilpraktiker geht, anfällig für antidemokratische Einstellungen, aber der Angelpunkt ist da. Und dann marschieren bei den Protesten eben auch Rechtsextreme mit, die versuchen, die Krise für ihre Zwecke zu nutzen. Auch die AfD könnte von diesem Potenzial bei Wahlen profitieren.

Bedrohen autoritäre und rechtsextreme Einstellungen die Demokratie?

Es gibt eine latente Aufstandsbereitschaft. Die Ideologien der Ungleichwertigkeit beschränken sich nicht auf die Abwertung anderer, sondern gehen einher mit antimodernen oder gar völkischen Vorstellungen, wie die Gesellschaft organisiert werden soll. Ständige Aushandlungsprozesse und Unsicherheiten nicht mehr auszuhalten und deshalb nach Autorität und Stärke zu rufen ist antidemokratisch. Das ist ein Motor, ein Antrieb, die künftige Verfasstheit unserer Gesellschaft zu verändern.

Oliver Decker, Elmar Brähler (Hg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments - neue Radikalität. Psychosozial-Verlag, 385 S., br., 24,90 €.
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