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- Föderalismus und Corona
Der Kern des Problems
Nicht der Föderalismus ist schuld am Corona-Debakel der Politik, sondern ökonomische Machtstrukturen
Von Konferenzen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder über Corona verspricht sich niemand mehr etwas – egal, ob sie stattfinden oder zwar geplant waren, aber wegen Aussichtslosigkeit abgesagt werden. Das hat viel mit Verlauf und (Nicht-)Ergebnissen einer Runde vom 22. März zu tun.
Man erinnert sich: Virologen wie Christian Drosten von der Berliner Charité plädierten für einen zwar zeitlich begrenzten, aber durchgreifenden Lockdown, mit dem die dritte Welle der Covid-19-Pandemie gebrochen werden sollte. Kanzlerin Angela Merkel, wissenschaftsaffin, neigte unverkennbar auch dazu und hatte schon früher vor zu schnellen Lockerungen gewarnt. Sie konnte sich nicht durchsetzen. Nach langem Gezerre wurde nur eine »Osterruhe« von Gründonnerstag bis zum 5. April beschlossen. Diese umfasste lediglich einen einzigen richtigen Werktag, ansonsten aber einen Samstag und vier Feiertage. Selbst das ließ sich nicht durchhalten. Schon am 24. März musste Angela Merkel bekanntgeben, dass aus dem Oster-Lockdown nichts werde. Weiterhin steigen die Infektionszahlen.
Die Ursachen für dieses und ähnliche Debakel bei der Pandemie-Bekämpfung werden meist an der falschen Stelle gesucht. Der Föderalismus sei schuld, heißt es, und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten dächten nur an sich selbst. Schon wird eine Reform gefordert, die den Bund zu Lasten der Länder zum Durchregieren ermächtige. Damit wird nun allerdings die Axt an eine Wurzel der bundesdeutschen Demokratie gelegt.
In Artikel 20 des Grundgesetzes steht: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.« Hier wird klipp und klar gesagt, dass es sich nicht nur um erstens einen demokratischen, zweitens einen sozialen, sondern drittens auch um einen Bundesstaat handelt. Kein Zentral-, nein: ein Bundesstaat. Für alle diese Bestimmungen gilt die sogenannte »Ewigkeitsklausel«. Gemeint ist Artikel 79 Absatz 3 der Verfassung: »Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.« Also: Neben der Menschenwürde (Art. 1), den Grundrechten und – ausdrücklich! – Artikel 20 sind die Befugnisse und Pflichten der Länder Grundpfeiler der Verfassungsordnung.
Dafür haben 1948/49 die drei westlichen Besatzungsmächte gesorgt. Ein erster, von deutschen Stellen vorbereiteter Entwurf des Grundgesetzes war ihnen zu zentralistisch. Die Nazis hatten einst die Länder abgeschafft, jetzt sollten diese die Allgewalt einer Staatsspitze verhindern. Also: Föderalismus ist hierzulande ein Element der Demokratie. Das mag im internationalen Vergleich eine deutsche Spezialität sein, aber aufgrund historischer Erfahrungen ist es eine plausible.
Das werden hoffentlich auch diejenigen bedenken, die verlangen, der Bundestag dürfe im Corona-Regime nicht weiterhin das fünfte Rad am Wagen bleiben, sondern er müsse mitsteuern dürfen. Soweit sie das Verhältnis des Parlaments zur Regierung betrifft, ist diese Forderung richtig. Sollte sie aber zentralstaatlich auf eine Schwächung der Länder hinauslaufen, geht sie in die falsche, in die antiföderale Richtung. Sie trifft gewissermaßen die Falschen.
Mit der Föderalismusschelte sind die Ministerpräsidenten gemeint, deren Benehmen als unmöglich gilt. CDU-Chef Armin Laschet (Nordrhein-Westfalen) und der CSU-Vorsitzende Markus Söder (Bayern) werden verdächtigt, ihre Vorschläge nicht an der Sache, sondern an ihren Hoffnungen auf eine Kanzlerkandidatur auszurichten. Die SPD-Politikerin Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern) warnte vor Urlaub in Mallorca, hielt aber Osterreisen unter Einhaltung von Vorbeugungsregeln im relativ infektionsarmen eigenen Bundesland an der Ostsee für denkbar. Auf eine Kanzlerin-Kandidatur hat sie dabei gewiss nicht spekuliert, wohl aber an die konkreten Bedingungen vor Ort gedacht. Das ist sinnvoll. Auch dem saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans (CDU) kann nicht nachgesagt werden, dass seine Lockerungspolitik – mag sie nun richtig oder falsch sein – von bundespolitischen Ambitionen geleitet wird.
Wahrscheinlich liegt das Problem gar nicht allein in den Ländern, sondern auch in der Bundesregierung. Fragen wir doch einmal, weshalb die Kanzlerin nur zaghafte Vorschläge macht und diese dann auch noch wieder zurückziehen und sich dafür entschuldigen zu müssen meint.
Handelt es sich um Politikversagen? Nein. Der Kern des Problems befindet sich woanders, nämlich in der ökonomischen Machtstruktur der Bundesrepublik Deutschland. Noch weniger als im ersten Lockdown 2020 haben jetzt die großen Produktionsunternehmen und die Plattformökonomie sich an Auflagen halten müssen. Ihre Beschäftigten sind großen Risiken ausgesetzt. Infektionsherde dort werden kaum aufgespürt. Die Interessenvertreter dieser Industrien wehrten sich bislang erfolgreich gegen Pflichttests in ihrem Bereich.
Das war keine Verschwörung. Man muss sich nicht einbilden, der Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie habe bei der Kanzlerin angerufen. Er konnte sich stattdessen auf den Volkszorn verlassen. Hotellerie und Gaststätten, viele Geschäfte, berufstätige Eltern von Kindern, deren Schulen und Kitas geschlossen sind: Sie leiden unter Regeln, die ihnen aufgezwungen werden. Das ist die latente, nicht rechte Basis eines Unmuts, den sich die AfD, »Querdenker« und die Tageszeitung mit den großen Buchstaben zunutze machen. Eine Politik, die – besorgt über ihren Absturz in der Volksgunst – einen unpopulären, aber wirksamen Lockdown vermeidet, bedient damit zugleich die Interessen des großen Kapitals. Dieses konnte sich die Krisenfolgen bislang erfolgreich vom Leibe halten. Stephan Weil (SPD) ist Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, das eine Sperrminorität an der Volkswagen AG hat, und vertritt es im Aufsichtsrat. Er ist gegen Verschärfung (sagen wir lieber: Vertiefung in die Arbeitswelt hinein) des Lockdowns in seinem Zuständigkeitsbereich. In diesem Sinn versagt Politik nicht, sondern sie funktioniert.
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