Sport frei im Gefängnis
Zum Tod des Anstaltsleiters Wolf-Dietrich Voigt - eines Visionärs in Sachen Resozialisierung
Meine erste bleibende Erinnerung an Wolf-Dietrich Voigt stammt aus dem Jahr 2010. Ich war seit wenigen Wochen Brandenburgs Justizminister und besuchte das Jugendgefängnis in Wriezen. Leiter war Wolf-Dietrich Voigt. In einem langen vertraulichen Gespräch berichtete er mir über seine an der Resozialisierung der jugendlichen Gefangenen ausgerichteten Ideen, von den finanziellen Grenzen und den Behinderungen durch die Ministerialbürokratie.
Wolf-Dietrich Voigt hatte in Jena Rechtswissenschaften studiert und war anschließend jüngster Staatsanwalt beim Generalstaatsanwalt der DDR in Berlin. Zu seinen Aufgaben zählte hier die Wiedereingliederung aus der Haft entlassener Straftäter in die Betriebe. Anfang der 90er Jahre gehörte Voigt zum Aufbaustab des brandenburgischen Justizministeriums, Mitte der 90er Jahre wurde er Gefängnisdirektor in Potsdam und in Oranienburg. Diese beiden Standorte wurden später aufgegeben.
Als ich 2010 in Wriezen mit ihm sprach, war er gerade von der im Justizministerium für den Jugendstrafvollzug zuständigen Beamtin gemaßregelt worden. Sie stammte aus dem Westen und war nicht damit einverstanden, dass der Sportlehrer der Anstalt die Übungsstunde mit dem auf die Arbeitersportbewegung zurückgehenden Spruch »Sport frei« eröffnete. Jener Spruch stehe im Kontext der indoktrinären DDR-Vergangenheit, sei ideologisch belastet und habe daher zu unterbleiben, so ihre Anweisung. Ich habe das stehenden Fußes rückgängig gemacht. Die Mitarbeiterin hat mir das nie verziehen. Voigt und ich begrüßten uns jedoch von da an immer schmunzelnd mit »Sport frei«.
Das letzte Mal traf ich Wolf-Dietrich Voigt vor gut einem Jahr. Wir diskutierten die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Strafvollzug. Ich hatte schon lange die Politik als Beruf aufgegeben, war aber trotzdem aus rechtspolitischen und wissenschaftlichen Gründen an dem Thema interessiert. Wir waren uns einig, dass die restriktive Reaktion des Justizministeriums auf die Pandemie dem in Artikel 54 der Landesverfassung verankerten Resozialisierungsanspruch der Gefangenen widerspricht. Es geht dem Ministerium darum, dass das Virus nicht die Mauern überwindet und Vorkommnisse wie eine Flucht verhindert werden. Denn solche Vorkommnisse sind für das Ministeramt, werden sie medial skandalisiert, eine Bedrohung. Die Grundrechte der Gefangenen spielen da kaum eine Rolle. Wolf-Dietrich Voigt, mittlerweile Leiter der Justizvollzugsanstalt Neuruppin-Wulkow, hatte eine andere Auffassung. Alle Gefangenen, bei denen es vertretbar ist, sollten in einen Langzeitausgang geschickt werden. In seinem Zuständigkeitsbereich hat er das versucht.
Zwischen den beiden Treffen haben sich unsere Arbeitswege vielfach gekreuzt. Bei der Erarbeitung des Justizvollzugsgesetzes von 2013, das die Rechte der Gefangenen und den Resozialisierungsansatz stärkt, war er ein kritischer Diskussionspartner. Voigt, dem einzigen aktuellen Anstaltsleiter Brandenburgs mit einer DDR-Biografie, ging es immer um die kreative Umsetzung des Gesetzes - etwa bei Wohngruppenvollzug oder Wiedereingliederung. Nicht selten stand er dabei auf der Leitungsebene allein auf weiter Flur. Auch die Produktion des preisgekrönten Dokumentarfilms »Nach Wriezen« von Daniel Abma, der drei aus dem Jugendstrafvollzug Entlassene und ihren Lebensweg begleitet, hat Voigt unterstützt. Eine Podiumsdiskussion nach einer Vorführung des Films bleibt mir mit ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem Gefängniswesen besonders in Erinnerung.
Am 7. April starb Wolf-Dietrich Voigt überraschend im Alter von 65 Jahren.
Volkmar Schöneburg war von 2009 bis 2013 Justizminister und gehörte von 2014 bis 2019 der Linksfraktion im Landtag an.
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