Handlungsarm und wortverliebt
Martin Lechners Roman »Der Irrweg« ist eine Zivildienst- und Psychiatrieerzählung - mit Längen
In Deutschland gibt es keinen Zivildienst mehr, in Österreich allerdings schon. Ob »Der Irrweg«, der zweite Roman des in Düsseldorf geborenen, aber beim in Salzburg residierenden Residenz Verlag verlegten Autors, wirklich in Österreich spielt, sei mal dahingestellt. Denn die Orte, die Lechner angibt, werden sich auf keiner handelsüblichen Landkarte finden lassen. Nur auf einer Lechner-Karte finden sie sich, Linderstedt und Niedergellersen zum Beispiel, denn schon in »Kleine Kassa«, dem ersten Lechner-Roman, tauchten diese Orte auf.
Wir vermuten: irgendwie Niedersachsen, vielleicht auch Baden-Württemberg. Auf Österreich gibt es außer dem Zivildienst keinen weiteren Hinweis, alle Protagonisten reden normal, also deutsches Hochdeutsch (und es gibt reichlich direkte Rede in diesem Roman). In der Vergangenheit spielt der Zivi-Roman ebenso wenig, auch wenn vieles darin so anmutet. Es gibt Smartphones, es gibt das Internet. Das wirkt nur insgesamt aus der Zeit gefallen, wie irgendwas, das 1995 spielt.
Die Handlung dieses affirmativ pubertären, ziemlich wortverliebten Romans ist rasch nacherzählt: Hauptfigur Lars ist ein mit sehr eigenen Komplexen behaftetes Einzelkind einer alleinerziehenden Krankenschwester mit Alkoholproblem. Er lässt sich für das eine Jahr Anstalt von der Schule befreien, auch weil er der Gängelei wegen eines viral gegangenen Videos (sic!) von seiner Mutter auf einem ihrer betrunkenen Ausflüge aus dem Weg gehen will.
Doch auch in der Anstalt ist er nicht vor dem Zugriff einer Frau sicher: Denn Hanna, sogenannte »Insassin«, stellt ihm nach und verdreht ihm sukzessive den Kopf. Also ist dies nicht nur ein Zivi-, sondern auch ein Psychiatrieroman, der sich sehr an seine recht schluffige, aber sympathische Hauptfigur klammert und ansonsten versucht, die geschilderten Banalitäten durch Wortwitz, reichlich ausgesuchten Adjektiven (ein Trainingsanzug ist nicht grün, auch nicht lindgrün, sondern förstergrün, das ist ein beliebiges Beispiel) und die Ausstellung von skurrilen Typen und lachhaften Situationen zu übertünchen. Das liest sich einerseits gut weg, lässt man sich einmal auf den Stil ein. Andererseits mutet auch das irgendwie altmodisch an. Hinten raus wird es dann zäh, denn der Roman hat außerdem ein Längenproblem.
Von Klassikern des Genres, Rainald Goetz’ »Irre« oder Ken Keseys »Einer flog über das Kuckucksnest«, ist das natürlich ganze Galaxien entfernt. Von Karl Ove Knausgård, der in »Träumen« eine wirklich irre Psychiatrie-Passage erzählt, Stichwort »ixen«, gar nicht zu reden. »Der Irrweg« interessiert sich merkwürdigerweise für diese Vorbilder nicht, mit Ausnahme vielleicht von Wolfgang Herrndorfs Roman »Tschick«, aber auch dieser Vergleich wäre eher herbeikonstruiert.
Man kann das und anderes natürlich auch angenehm finden: So gesehen ist »Der Irrweg« nämlich ein von Erzählmoden und aktuellen Diskursen wie Identitätspolitik, Rassismusfragen oder Corona gänzlich unbeleckter Roman, der einfach nur den skurrilen Problemen seiner Figuren hinterher kriecht. Und vielleicht nicht nur einer, der von auslaufender Jugend erzählt, sondern auch für sie: also Bong beiseite gestellt, Zocken kann man später noch, ein wenig lesen schadet nicht.
Martin Lechner: Der Irrweg.
Residenz-Verlag, 272 S., geb., 24 €.
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