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»Mein größter Traum wäre eine wiedererlangte Bank«
Rechtsanwalt Luis Caro über die Entstehung der argentinischen Fábricas Recuperadas - und was dabei half, dass es heute 350 selbstverwaltete Betriebe mit rund 30 000 Beschäftigten gibt
Vor 20 Jahren durchlebte Argentinien eine schwere wirtschaftliche und politische Krise. Firmen brachen zusammen, Banken waren zahlungsunfähig, es herrschten Arbeitslosigkeit und Massenarmut. Über Nacht machten sich Firmeneigentümer aus dem Staub. Um ihre ausstehenden Löhne einzufordern, hielten viele Beschäftigte Wache vor den Werkstoren, hinderten nächtliche Räumkommandos daran, heimlich Maschinen und Fabrikanlagen abzutransportieren. Später nahmen sie das Werksgelände selbst wieder an sich. Wie waren die Anfänge dieser Bewegung der wiedererlangten Betriebe?
In der damaligen Krise galt die Idee der Selbstverwaltung als eine Form des Widerstands gegen die Arbeitslosigkeit generell, aber auch ganz individuell gegen den Verlust des eigenen Arbeitsplatzes. Die Arbeitenden erkannten, dass sie in der Lage sind, einen Betrieb zu führen und zu verwalten. Als wir 2001 anfingen, hatten wir nicht mal einen Namen dafür. Später kam dann die Bezeichnung Fábricas Recuperadas auf. Wobei Fabrik oft mit Industrie gleichgesetzt wird. Deshalb kommt es auf die Definition an. Gegenwärtig gibt es rund 200 Fabrikbetriebe. Erweitert man aber die Bandbreite von Industriebetrieben bis zu Restaurants, sind es etwa 350 Kooperativen mit rund 30 000 Beschäftigten. Viele sind seit 20 Jahren dabei, und immer wieder kommen neue Betriebe hinzu, die von ihren Beschäftigten übernommen werden. Heute ist das ein Modell, das sich als tragfähig erwiesen hat.
Dr. Luis Caro ist Rechtsanwalt für Insolvenzrecht und Vorsitzender des Movimiento Nacional de Fábricas Recuperadas por sus Trabajadores, der Bewegung der Arbeitenden, die ihre Betriebe wiedererlangten. Der 58-Jährige ist in der Villa Corina aufgewachsen, einem der zahlreichen Armenviertel in und um Buenos Aires. Seinen ersten Ausbildungsabschluss machte er als Maschinenbautechniker. In den 90er Jahren leitete er den Sozialentwicklungsbereich in Avellaneda, einer Vorstadt von Buenos Aires. Mit ihm sprach Jürgen Vogt.
Foto: Jürgen Vogt
Was sind die wichtigsten Erfahrungen aus diesen zwei Jahrzehnten?
Ein Anfangsfehler war sicherlich, dass wir eine politische Bewegung sein wollten. Wir wollten Kandidaten aufstellen und an Wahlen teilnehmen. Es gab Betriebe, die die Nähe zu Regierungsfunktionären oder Gewerkschaften suchten, stets mit der Hoffnung auf Subventionen. Damit gingen viel Zeit und Energie verloren. Die Betriebe allerdings, die sich der Konkurrenz auf dem Markt gestellt haben und sich auch um Verkauf und Marketing ihrer Produkte kümmern, hatten bessere Chancen, zu bestehen. Ein anderer Irrweg waren die Mischsysteme, also der Versuch, eine Kooperative innerhalb eines Privatunternehmens zu gründen. Das klappte nicht, weil es dabei immer nur ums Geld ging. Das Management wollte immer mehr verdienen als die Arbeitenden, und Letztere bleiben schlicht abhängig Beschäftigte.
Und gerade Letztere sollen die Verantwortung übernehmen?
Ja, es geht darum, die Pyramide umzudrehen, was nicht einfach ist. Denn meist waren es nur die Beschäftigten aus der Produktion, die vor den Werkstoren die Mahnwachen abhielten und die Betriebe wieder flottmachten. Was fehlte, waren die ehemals Beschäftigten in Verwaltung, Marketing und Produktentwicklung oder die technischen Spezialisten, die ein Betrieb braucht, je nachdem, welche Produkte er fertigt. Das ist auch heute noch nicht anders. Die größte Herausforderung für alle ist aber der Wechsel vom System der abhängigen Beschäftigung in ein System der freien Beschäftigung. Dieser Wechsel ist für alle das schwerste.
Welche wirtschaftliche Bedeutung haben die wiedererlangten Betriebe?
Ihr Anteil an Argentiniens Volkswirtschaft ist gering. Aber für die Beschäftigen sind sie oftmals die einzige Alternative zum Verschwinden ihres Betriebes und Arbeitsplatzes und dem Abrutschen in die Erwerbslosigkeit oder Armut. Nehmen wir als Vergleich den Mischkonzern Techint. Mit seinen rund 5000 Beschäftigten ist er Argentiniens größter privater Arbeitgeber. Gemessen daran sind die 30 000 Beschäftigten in den wiedererlangten Betrieben eine beachtliche Menge.
Vor zehn Jahren wurde das Konkursgesetz reformiert. Es war ein Meilenstein in der Geschichte der Fábricas Recuperadas. Was ist seither anders?
Vor der Reform musste ein Konkursrichter im Fall einer Insolvenz stets die Räumung und die anschließende Liquidation des Unternehmens anordnen. Damit verschwand nicht nur das Unternehmen, sondern auch das Know-how der Beschäftigten. Dann besuchte der damalige Präsident Néstor Kirchner eine übernommene Fabrik. Er fragte, wie er helfen könnte, und es war offensichtlich, dass er damit erwartete, wir würden um Finanzhilfen bitten. Stattdessen erklärten wir ihm, warum das Konkursgesetz reformiert werden sollte. Wir konnten ihm klarmachen, dass die Weiterführung eines konkursgegangenen Unternehmens durch seine Beschäftigten eine machbare Alternative zur Komplettabwicklung ist. Die Reform kam, und seither hat für den Konkursrichter die Weiterführung des Betriebs oberste Priorität. Zudem können die Beschäftigten den Betrieb erwerben und dazu ihre ausstehenden Löhne und Gehälter einsetzen.
Was sind Ihre Wünsche für die kommenden 20 Jahre?
Das Konzept der wiedererlangten Betriebe sollte in der Arbeiterbewegung als eine gangbare Alternative mehr Aufmerksamkeit erhalten. Mein größter Traum ist die Einrichtung einer wiedererlangten Bank. Als Kreditgeberin in der Verantwortung ihrer Beschäftigten könnte sie einiges bewegen.
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