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Nach oben schauen!
Warum soll der Himmel eigentlich immer blau sein? Für eine Wolkenreise muss man nur den Blick vom Smartphone heben. Eine Einladung zur Wolkenschau.
Vielleicht ist es Sozialisation. Erst warnt die Geschichte von Hans-guck-in-die-Luft im »Struwwelpeter« Kinder vor der Himmelsschau: Auf dem Weg zur Schule, »schaut er aufwärts allenthalben«, nach Dächern, Wolken und Schwalben. Die Strafe folgt auf dem Fuße: Er fällt ins Wasser.
Später kommt das Smartphone. Die Perspektive, mit der man damit in die Welt blickt, verlangt, den Kopf zu senken. Ganz abgesehen vom steifen Nacken, Mediziner prophezeien schon mal einen Smartphone-Buckel im Alter. Meteorologisch traut man dem winzigen Bildschirm seines Telefons mehr als dem Blick in den gigantischen Himmel, wo das Wetter in Großbuchstaben leuchtet.
Dieser Text stammt aus unser Wochenendausgabe. nd.Die Woche nimmt Geschehnisse in Politik und Gesellschaft hintergründig unter die Lupe. Politische und wirtschaftliche Analysen, Interviews, Reportagen und Features, immer ab Samstag am Kiosk oder gleich mit einem Wochenendabo linken Journalismus unterstützen.
Wer die eigene Empirie durch eine Wetter-App ersetzt, sollte nicht hinter geschlossenem Vorhängen aufwachen. »Bleib heute lieber zu Hause, es regnet!«, teilt mein Telefon ungefragt mit, während mich eine prächtige Sonne vors Fenster lockt. Wer statt ins Smartphone den Blick nach oben riskiert, wird nicht nur regional das präzisere Wetter finden, sondern hat auch jede Menge zu entdecken. Einmal sah ich einen Regenbogen, den kaum jemand beachtete, weil alle in ihr Smartphone starrten, das solche Himmelsphänomene nicht mal vorhersagen kann.
Vielleicht sollte man auch das Radio ausschalten. Ähnlich wie sie sich bei den Temperaturen in eine hitzige Wetterekstase treiben, wetteifern Radiostationen aus kommerziellen Gründen um den heitersten Himmel. Im Radio versucht man ein real existierendes Wolkenmeer stets mit vorsichtigen Worten zu umschiffen. Ewig flapsige Moderatoren sprechen ängstlich von »klitzekleinen Regenwölkchen«. Die selten hinterfragte Grundannahme dahinter lautet: Blauer Himmel ist gut, bewölkter Himmel schlecht.
»Das war’s dann mit dem schönen Wetter«, sagt auch ein Bekannter von mir, sobald am Himmel die erste Wolke aufzieht. Vielleicht ist es nur eine antrainierte, irrtümliche Logik, nach der ein Wolkenaufzug automatisch die Stimmung verdüstert. Natürlich kann man sich über das Blau des Himmels in all seinen Varianten freuen. Aber jeden Tag blauer Himmel ist auch langweilig.
Dass es auch anders geht, zeigt die Cloud Appreciation Society (CAS). Sie bekämpft das »Blauer-Himmel-Denken« und wertschätzt die Dynamik von Wolken. Über 50 000 Mitglieder in 120 Ländern zählt die Gesellschaft mittlerweile, die 2005 in Großbritannien gegründet wurde. Ihr Manifest bekräftigt die Ansicht, dass Wolken zu Unrecht geschmäht werden: »Das Leben wäre langweilig, müssten wir Tag für Tag zu wolkenloser Monotonie aufblicken.« Wolkenbetrachtung komme der Seele zugute und erspare deshalb sogar die Kosten für den Psychoanalytiker. Das Manifest schließt mit dem Appell: »Schau hoch, staune über die vergängliche Schönheit und denke stets daran, das Leben mit dem Kopf in den Wolken zu leben!«
Also die Wolken feiern statt das kurze Leben unter dem schläfrigen Sedativum Blau zu vergeuden! Wie es der englische Maler, Kunstkritiker und Sozialphilosoph John Ruskin tat, von dem es heißt, er sei schlicht ins Schauen verliebt gewesen. Er blickte ein Leben lang in die Wolken und notierte die Beobachtungen akribisch in seinen Tagebüchern. Die aufmerksame Wolkenschau bot ihm auch weniger schöne Erkenntnisse. So wies er in seinem Vortrag »Die Sturmwolke des 19. Jahrhunderts« unter anderem auf jene »Pest-Wolke« hin, in der er bereits Umweltverschmutzungen ahnte, verursacht von Industrieschornsteinen.
Wer sich heute auf Wolkenschau begeben will, für den hält der Rowohlt-Verlag das Taschenbuch »Der Wolkensammler« vor. Auf den ersten fast 80 Seiten der Einleitung passiert Autor Simon Elson Geschichte und Geschichten um Wolkenerforschung, Literatur, Kunst und Philosophie. Angefangen bei Aristoteles, der in einer ihm zugeschriebenen Schrift »Über die Welt« richtig erkannte, dass hohe Wolken aus Eiskristallen bestehen. Die heute bekannte Wolkeneinteilung in Cumulus (haufenförmig), Stratus (schichtförmig) und Cirrus (lockig, fransig) brachte uns 1803 der englische Apotheker Luke Howard ein. Der naturwissenschaftlichen Systematik Carl von Linné folgend, werden die Wolken später in vier Familien und zehn Gattungen, vierzehn Arten, neun Unterarten und Sonderformen eingeteilt.
Die vier Familien bezeichnen die Positionen in den Stockwerken der Troposphäre, die von der Erde aus bis 18 Kilometer in der Höhe reicht: Niedrige, mittlere, hohe und stockwerkübergreifende Wolken. Ungeachtet wissenschaftlicher Namen sehen Spanier in den Schäferwolken ein himmlisches Kopfsteinpflaster, Engländer einen Makrelenhimmel, Franzosen immerhin einen Schäferhimmel.
Renaissancekünstlern wie Hieronymus Bosch oder Lorenzo Lotto erscheint Jesus von einer Kumuluswolke umgeben. Vermeer gibt große Barockwolken beinahe fotorealistisch wieder. Die atmosphärischen Wolken auf William Turners Gemälden weisen mit ihren Färbungen möglicherweise wie bei Ruskin hin auf die Luftverschmutzungen der Industrialisierung.
Der zweite Teil des Buches dient der Bestimmung einzelner Wolken. Hinzu kommen grafische Darstellungen sowie Formblätter für eigene Wolkensammlernotizen. Hilfreich zur Wolkenbestimmung ist auch das Internet. So lassen sich auf der Website der CAS Wolkenphänomene entdecken. Als offizielle Referenz gilt der Wolkenatlas der World Meteorological Organization.
So könnte man also zum Wolkenexperten reifen. Vor dem Fenster oder auf dem Feld hocken, kurz nach oben schauen und ausrufen: »Moment mal, das sind doch Altocumulus perlucidus.« (Schichtförmig und lückenhaft ausgebreitete Schäferwölkchen). Bis einen das fortwährende Vergewissern in Buch oder Smartphone erneut um die Himmelschau bringt.
Wie wir schon aus dem Wolkensammler-Buch erfahren, schrieb Wolkenfan Goethe von den »Übergänglichen«. Was auf deren Natur hinweist, die erstens bei ihrer Bestimmung Schwierigkeiten bereitet: Noch im Augenblick geht die gerade entstandene Form in die andere über. Zweitens stellt sich die Frage, wie wichtig dem Himmelsbetrachter die präzise Bestimmung ist. Dient der Blick in den Himmel dem Menschen doch der eigenen Relativierung, dem Verstehen von Vergänglichkeit und - last but not least - verleiht sie seiner Fantasie passenderweise Flügel.
Denn so eine fantastische Wolkenreise ist, Wolken vorausgesetzt, jederzeit und ganz ohne Easyjet oder Lufthansa machbar. Vielleicht befördert der regelmäßige Blick nach oben die Umkehrung der Wolkenschmähung. Fegt eine gleichmacherische Serenität (Heiterkeit) dann den Himmel leer, höre ich meinen Bekannten sagen: »Jetzt ist’s mit der schönen Wolkenschau vorbei.« Dann bleiben uns nur noch heitere Sätze zu sagen wie: Dieses Licht, dieses Blau, diese Langeweile. Und der einzige Grund, sich ein wolkenloses Firmament zu wünschen, wäre der Blick zu den Sternen in den Nachthimmel.
Tipps: Simon Elson:Der Wolkensammler, Naturwunder Band 3, Rowohlt, 20 €.
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cloudatlas.wmo.int
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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