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Rumvögeln ist noch keine Befreiung
JEJA NERVT: Über Sexpositivismus und seine Kehrseiten
Saufen, feiern, flirten, ficken, abschießen, repeat - »Sexpositivismus« gilt in jüngeren linken Kreisen als Standard. Wo das Patriarchat die sexuellen Potenziale von Menschen in heterosexuelle, monogame Ehen zwängen will, sind unverbindlicher Sex und eine Vielzahl an Partner*innen geradezu revolutionär - oder? Die linke »Befreiung« der Sexualität beruft sich historisch auf eine Analyse des Faschismus. Die These: Wer seine Energien frei ausleben kann, steht für das Anbeten von Führern und das lustvolle Bestrafen von Abweichenden nicht zur Verfügung. Doch nicht nur die Gegenkultur hat sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs weiterentwickelt - auch das Patriarchat hat gelernt, die neuen Freiheiten in seinen Dienst zu stellen.
Der Ausdruck »sexpositiv« stellt eine implizite Kritik an anderen Formen des Feminismus dar. Diese seien, bei allem berechtigten Anprangern von männlicher Gewalt und der Schwierigkeiten insbesondere für Frauen, als sexuelle Wesen frei zu sein, zu »sexnegativ«. Anders gesagt: Sie wertschätzten die Lust von Frauen respektive FLINT (Frauen, Lesben, Intersexuelle, Nichtbinäre, Trans - d. Red.) nicht genügend. Im Ausleben des eigenen Begehrens liege, so die Argumentation, für diese marginalisierten Gruppen bereits befreiendes Potenzial. FLINT sollten, statt Sexualität als Machtinstrument von Männern zu begreifen, ihr eigenes Begehren entdecken, erkunden und kultivieren.
Kein Wunder, dass der Rest der Linken sich das Ganze gleich zu eigen gemacht hat. »Feministisch« ist ja eh irgendwie jede*r, und überhaupt: Frauen, die nicht »selbstbewusst« sind, sind sowieso nicht heiß. Es gehört zum guten Ton in linken Kreisen, dass Heteromänner auf »empowerte«, »selbstbewusste«, »emanzipierte« Frauen stehen - im Kontrast zu all den verklemmten Bitches, die immer nur Stress machen. So wird, gerade bei heterosexuellen Mädchen und jungen Frauen, der Sexpositivismus zu einem Merkmal in der Frauenkonkurrenz. Mit dem Verweis auf den allgemeingültigen Sexpositivismus beanspruchen Männer in linken Kreisen die Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche.
Doch auch in queeren Kontexten sorgt der sexpositive Ansatz für reichlich Zoff. Das berüchtigte »Queer Drama« wäre jedenfalls um einiges entschärft, würde die Erfüllung queerer Emanzipation weniger in sexuellen Abenteuern gesehen werden, sondern mehr in verbindlichen Beziehungsgefügen, in Solidarität und Unterstützung und im Kampf für queere Rechte. Das heißt nicht, dass Sexualität unwichtig ist. Jedoch entspricht der kulturelle Druck, persönliches Glück durch vielfältige sexuelle Erlebnisse zu sammeln, auch neoliberalen, individualisierenden Vorstellungen vom Leben. Diese kennen abseits der Formen von Lohnarbeit und Konsum keine größeren Ideen eines menschlichen Zusammenlebens und machen tendenziell blind für die Ungleichheit - innerhalb und außerhalb unserer persönlichen Beziehungen. Entwickeln sich Interessen auseinander, werden Mitbewohner*innen aus WGs gekickt, Freund*innen abgeschrieben und Gruppen, in denen Fruchtbares hätte passieren können, gesprengt. Und aus sexueller Anziehung werden nicht selten Irritation und Verwerfung.
Junge Linke stellen heute eher auf Instagram ihre Sexyness aus, betreiben auf Twitter Diskurs-Antifa als Ich-AG. Sexuelles Kapital wird angehäuft und in sexuelle Begegnungen umgemünzt, die primär dem Spaß dienen sollen. Sich mit Genoss*innen verbindlich in einer Gruppenkonstellation um eine gemeinsame Politikform zu bemühen, die dann von ausgehandelten Beziehungen der Beteiligten getragen sein muss, scheint jedenfalls weniger stattzufinden. Zu einer Welt, in der alle Begegnungen potenziell die Möglichkeit zum sexuellen Genuss beinhalten müssen, damit man sich als »emanzipiert« begreifen kann, passt eine solche Entwicklung. Die Idee von »Sexpositivismus« oder »sexpositivem Feminismus« ist sicher nicht der Auslöser solcher Tendenzen zur Individualisierung. Dass eine irgendwie von kulturellen Tabus gereinigte Sexualität eine befreiende Wirkung auf die Menschen hat, lässt sich meines Erachtens jedoch kaum noch beobachten.
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