Ein großer Menschenfreund

Zum Tod des Schriftstellers Walter Kaufmann

  • Sabine Kebir
  • Lesedauer: 6 Min.

Es war 2018. Während einer Sitzungspause der Jahrestagung des PEN in Göttingen sah ich Walter und Lissy Kaufmann auf einer Caféterrasse in einer belebten Straße sitzen - und um sie herum sechs junge Göttinger, die eifrig mit ihm diskutierten. Was hatte sie angezogen? Die Ausstrahlung eines Abenteuerhelden, der einem Wild-West-Film entsprungen sein konnte? Bekannt war ihnen der Schriftsteller wohl eher nicht, denn sein Leben hatte Walter Kaufmann hauptsächlich in der DDR zugebracht und nur wenig im Westen. Als ich mich dazusetzte, erfragten sie bereits Titel seiner Bücher, die sie sich zulegen wollten.

Ja, Walter zog Menschen magisch an, eine wohl angeborene Eigenschaft, die ihn für den Beruf des Reporters und Schriftstellers geradezu prädestinierte. Natürlich hat er auch gezielt nach Menschen gesucht - wir verdanken ihm zum Beispiel Berichte über den Prozess gegen Angela Davis und ein in einem US-Gefängnis geführtes Interview mit der afroamerikanischen Bürgerrechtlerin. Er begegnete bekannten und unbekannten Leuten eben besonders intensiv, auf geradezu magische Weise. So saß er einmal in einer New Yorker Suppengaststätte, in der nur ein einziger Mann eine Suppe löffelte. Walter fiel auf, dass er ab und zu mit den Fingern auf den Tisch klopfte, als spiele er Klavier. Neben ihm lag ein Muff auf dem Tisch, obwohl es warm war. Plötzlich erkannte Walter in ihm den kanadischen Pianisten und Komponisten Glenn Gould. Man kam ins Gespräch, und Gould lud Walter zu seiner gleich beginnenden Studioaufnahme der Bachschen Fugen ein. Von vielen Begegnungen ähnlicher, zum Teil noch aufregenderer Art, erzählte Walter in mehreren Anthologien, die in seinen letzten Lebensjahren erschienen sind - zwar in viel kleinerer Auflage als seine Bücher in der DDR. Aber immerhin, Walter gehörte zu den Autoren, die sich auch nach 1989 Gehör verschaffen konnten.

Seine Anthologien enthalten mit herrlich leichter Hand auf jeweils wenigen Seiten verfasste Kleinporträts. Sie erzählen von Erlebnissen und Erfahrungen seit seiner Kindheit: vom Dienstmädchen Käte, das den zeitweise vereinsamten Neunjährigen in ihr Bett nahm und ihm eine erste Ahnung erotischen Vergnügens vermittelte; von dem australischen Aborigine, der ihn in einem Kanu durch Mangrovengewässer voller Krokodile lotste. Und von Verlegern in der DDR, von denen sich Walter nichts wegstreichen ließ - lieber ließ er eine Publikation ein paar Jahre schmoren. Ebenso vom Straßenjungen aus Rio de Janeiro, der jeden Tag in dem Restaurant, in dem Walter aß, vom Kellner eine Kartoffel erhielt.

Unter dem Namen Jizchak Schmeidler wurde Walter 1924 als unehelicher Sohn einer Verkäuferin im Berliner Scheunenviertel geboren, aber schon bald von dem Duisburger Anwalt Sally Kaufmann und dessen Frau Johanna adoptiert. Er wuchs in liebevollen Verhältnissen auf, die sich mit dem Einbruch der Naziherrschaft jedoch schnell verdüsterten. Der Tätigkeitsbereich des Vaters wurde immer mehr eingeschränkt, bis er in der Pogromnacht 1938 verhaftet wurde, während Walter mit seiner Mutter im Keller saß und mit anhörte, wie SA die Wohnung plünderte und zertrümmerte. Wieso sich seine Eltern nicht zur Emigration entschlossen und schließlich in Auschwitz ermordet wurden, hat Walter nie herausgefunden. Ihn jedoch hatten sie noch mit einem der letzten Kindertransporte nach England geschickt, von wo aus er jedoch mit 16 Jahren als »Angehöriger eines feindlichen Landes« nach Australien deportiert wurde, wo er eine Weile Zwangsarbeit leisten musste. Walter meldete sich danach als Freiwilliger zur australischen Armee. Den Krieg und die ersten zehn Nachkriegsjahre aus pazifistischer Perspektive erlebend, bewahrte ihn ein für alle Mal vor jeglichem Provinzialismus.

Walter schlug sich mit verschiedenen Jobs durch, unter anderem auch als Straßenfotograf auf »Menschensuche«. Prägend für ihn waren die Jahre, in denen er als Hilfsmatrose bei der australischen Handelsmarine angeheuert hatte. Den Charme des raubeinigen Seemanns behielt er zeitlebens bei. Auf den Schiffen kam er in Kontakt mit einer starken Gewerkschaftsbewegung und mit »schreibenden Arbeitern«, wodurch er selbst zum Schreiben ermutigt wurde, selbstverständlich auf Englisch. Als dem Naziterror entronnener Jude, der neben anglophonen Autoren auch deutsche Exilschriftsteller, zum Beispiel Anna Seghers, auf Englisch las, galt er als Spezialist für den Faschismus und fühlte sich auch als solcher. Mit diesem Rüstzeug verfasste er einen ersten Roman, »Voices in the storm«, der zunächst allerdings kaum über Buchhandlungen vertrieben wurde. Wie andere schreibende Schiffsarbeiter brachte auch er sein Buch höchstpersönlich ans Publikum: per Lesung auf Deck in einer Arbeitspause. Die Kollegen kauften dann hin und wieder ein Buch. Obwohl es sich hier um eindeutig sozialistisch konnotierte Literatur handelte, nahm sich schließlich auch der etablierte Literaturbetrieb der schreibenden Matrosen an und vertrieb deren Bücher in größeren Auflagen. Mehrere Autoren aus Walters Gruppe avancierten zu berühmten Schriftstellern. Er selbst gehörte zu den wenigen deutschen Exilautoren, die in ihren Zufluchtsländern publizistische Erfolge erringen konnten. Auch aus diesem Grund hatte es der bereits verheiratete junge Walter nicht besonders eilig, nach Deutschland zurückkehren.

Eine Gelegenheit bot sich, als er 1955 von seiner Gewerkschaft als australischer Delegierter zu den Weltfestspielen der Jugend nach Warschau gesandt wurde, wo er für eine Novelle den ersten Preis gewann: eine mehrwöchige Reise in die Sowjetunion und dann auch in die DDR. Sich schließlich im ostdeutschen Staat niederzulassen war für ihn die bessere Option als in Westdeutschland, wo er bei einem Besuch in Duisburg von den neuen Bewohnern des ehemaligen Wohnhauses seiner Adoptiveltern so zynisch wie rüde empfangen worden war: »Wir haben Ihrer Mutter, bevor sie auf die große Reise ging, noch ihre festen Schuhe mitgegeben.«

Walter fand es ganz natürlich, seinen australischen Pass gegen einen DDR-Pass einzutauschen; er bot dies von sich aus den Behörden an. Obwohl da die garstige Zeit vorbei war, in der Westremigranten ihre Loyalität beweisen mussten, indem sie ihren vormaligen Pass abgaben. Doch man händigte Walter einen »Fremdenausweis« aus und bat ihn ausdrücklich, den australischen Pass zu behalten. Der Pass der Deutschen Demokratischen Republik war damals von vielen Staaten noch nicht anerkannt worden, was geheime Missionen kaum behinderte, wohl aber normale internationale Beziehungen. Zu den Olympischen Winterspielen 1960 in Squaw Valley erhielten nur Sportler Visa für die USA, kein einziger Journalist. So wurde Walter nun auch zum Sportreporter.

Er erledigte noch etliche weitere Aufträge für das Olympische Komitee der DDR. Hier ist ein Sprung zum Thema »Walter und die Frauen« angesagt. Als er einmal in Brüssel auf dem Weg zum Europäischen Olympischen Komitee war, wurde er von einer attraktiven Amerikanerin angesprochen, mit der sich eine Beziehung ergab. Diese Frau kam sogar ein paar Wochen in die DDR und beschleunigte das Ende von Walters noch in Australien geschlossener erster Ehe. Die Episode ist eine der verrücktesten in seiner Biografie, denn Maxine entpuppte sich schließlich als eine auf ihn angesetzte Spionin. Er scheint sie aber in einer Weise beeinflusst zu haben, dass sie für ihre Auftraggeber nicht mehr tragbar war. Sie verschwand zwar aus seinem Leben, tauchte aber in Jugoslawien unter. Walter erkannte ihre Stimme im englischsprachigen Radio Belgrad, rief dort an und - hatte sie tatsächlich an der Strippe.

In Walters belletristischen Werken gibt es etliche berührende Passagen, in denen eine ihm irgendwie ähnliche Figur zwischen zwei Frauen steht. Konflikt- und schmerzfrei läuft das nicht ab. Aber es geht nie um das alte Spiel zwischen Macho und bedauernswerten weiblichen Opfern. Stattdessen lernen wir erotisch selbstbewusste Frauen kennen und einen Mann, für den die eine Liebe nicht aufhört, wenn er von einer neuen ergriffen wird.

Walter Kaufmann ist am 15. April 97-jährig verstorben. Ein großer Menschenfreund ist von uns gegangen.

Unsere Autorin, Literaturwissenschaftlerin, ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.

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