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Nicaraguas neues Normal
Präsident Daniel Ortega hat drei Jahre nach den Studentenaufständen die Lage unter repressiver Kontrolle
Vom Glockenturm der Kirche La Merced aus überschaut man Granadas pastellfarbene Häuser und deren rote Ziegeldächer. In Palmenkronen, die dazwischen herausragen, tummeln sich tropische Vögel. Vom Nicaraguasee aus weht eine abendliche Brise, und in der Ferne schlummert der in üppigem Grün schillernde Vulkan Mombacho.
Die knapp 50 Kilometer südlich der Hauptstadt Managua gelegene Kolonialstadt ist ein angesagtes Reiseziel. Neben der Agrarwirtschaft ist der Tourismus der Hauptmotor der nicaraguanischen Ökonomie. Seit April 2018 blieben aber die Reisenden angesichts der landesweiten Volksaufstände gegen die autoritäre Regierung aus. 2020 brach mit Corona der sich gerade etwas erholende Tourismussektor erneut ein.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
»Seltsam, von hier oben schaut alles so harmlos aus«, bemerkt der ehemalige Reiseführer Elias. Heute verkauft der 39-Jährige mit seiner Frau hausgemachte Gerichte. »Wenn du dich vom Gegenteil überzeugen möchtest, wag’ dich zwei Blocks weiter. Schau, dort werden Bühnen für das Spektakel aufgebaut. Ein Straßenfest mit Umzügen von Zuchtpferden und allem. Das Ganze beginnt dort und endet unten am See.« Mit dem Finger zeichnet er die Route in der Luft nach. »Meine Familie lebt vom informellen Sektor, so wie der Großteil der Bevölkerung. Wir müssen raus und arbeiten, um zu essen.« Sonst ist niemand auf dem Turm. Dennoch schaut Elias sich rasch um, bevor er fortfährt: »Aber pompöse Feste orchestrieren, das ist doch in diesen Pandemie-Zeiten eigentlich ein Verbrechen, oder?«
Dämmerung und Sonnenuntergang tauchen die Straßen in ein unwirkliches Farbenspiel. Unterdessen mehren sich Pickups mit Polizist*innen und schwarz-martialisch gekleideten Spezialeinheiten. Mit kugelsicherer Montur und schweren Schusswaffen ausgerüstet, beziehen sie Stellung. Auf den Mauern des Xalteva-Parks sitzen bereits eng gedrängt erste Schaulustige. Kinder spielen Ball, und an Ständen wird Essen verkauft. Die in Bussen angereisten Folkloretanzgruppen lassen sich in bunten Trachten ablichten. Als das Fest beginnt, haben sich bereits über hundert Menschen versammelt. Eine Schutzmaske trägt hier kaum jemand.
»In Bewegung bleiben«, mahnt Julio, Anwalt und Historiker. Der 55-Jährige zieht sich die Schirmmütze tief ins Gesicht. »Das offizielle Polizeiaufgebot ist nicht alles. Es wimmelt von verkleideten Aufpassern in Zivil.« Während er sich den Weg durch die Menge bahnt, raunt er: »Achte auf die Stiefel. Exakt die gleichen wie bei den uniformierten Kollegen. Der schöne Schein der Festivität soll um jeden Preis gewahrt werden.« Mittlerweile ist auch die Parade in vollem Gange. Ausgelassen prosten sich die stolzen Reiter zu, während sie ihre Rösser tänzeln lassen. Eine Blaskapelle gibt den Takt an, und Passanten winken Fernsehkameras zu, die das rege Treiben dokumentieren.
In einer Seitengasse, abseits des Auflaufs bleibt Julio stehen: »Dieser Akt ist Teil einer zynischen Kampagne seitens der Regierung. Ein klares Zeichen: In diesem Land gibt es weder politische Krise noch Pandemie, und ein bisschen Geld soll außerdem zirkulieren. Das ist fatalistische Fahrlässigkeit per Dekret und pures Opium fürs Volk.« Bevor er in ein Taxi steigt, ruft er schmunzelnd: »Der Comandante (Daniel Ortega, Anm. d. V.) hat’s gesagt, in Nicaragua gibt es kein Covid!«
Die staatliche Antwort auf das Virus lief von Anbeginn den Empfehlungen nationaler wie internationaler Expert*innen zuwider. Vor einem Jahr rief das Regime Ortega-Murillo seine Sympathisant*innen und den öffentlichen Dienst zu einem Großaufmarsch unter dem Motto »Liebe in Zeiten des Covid-19« auf, bei dem Tausende zusammenkamen. Seither wurden keinerlei Einschränkungen des öffentlichen Lebens vorgenommen. Landesgrenzen und staatliche Schulen blieben geöffnet, sportliche Aktivitäten wie Boxkämpfe, Konzerte, religiöse Veranstaltungen und karnevalesk anmutende Feste finden uneingeschränkt statt. Verlässliche Zahlen über das Infektionsgeschehen gibt es nicht.
Ein Gespräch mit Libertad, eine der Anführer*innen der oppositionellen Studierendenbewegung, gewährt Einblicke in die anhaltende politische Krise. Das Treffen ist erst am Abend möglich, davor sind Polizist*innen vor ihrem Haus stationiert. Sie legt Jazzmusik auf, um das Gespräch vor unerwünschten Mithörer*innen zu schützen. »Man lernt, mit der täglichen Angst zu leben, geschnappt zu werden. Ich bekomme Anrufe in denen sie mir drohen oder mit mir ominöse Treffen vereinbaren wollen.« Die 23-Jährige zieht an ihrer Zigarette und fährt fort: »Solche Einschüchterungstaktiken, willkürliche Verhaftungen, repressive Gesetze, Zensur - das ist unser neues Normal.«
Sie nickt in Richtung eines Stapels mit Hygiene-Kits, die sie in Stadtvierteln verteilt, wo vor allem Ärmere leben. Fast die Hälfte der Bevölkerung überlebt mit rund zwei US-Dollar pro Tag. Da bleibt wenig für Schutzmasken und Desinfektionsmittel. »Covid ist hier ein Aggressor mehr. Obgleich deutlich mehr Menschen erkranken, als gemeinhin angenommen oder glauben gemacht wird. Viele verfügen nicht über finanzielle Mittel oder haben Angst, ein Krankenhaus aufzusuchen. Von den meisten Fällen hört niemand, sie erliegen dem Virus im Stillen daheim.«
Was ist mit Impfungen, die internationale Institutionen dem Staat spenden? »Laut der Vizepräsidentin wird seit der zweiten Aprilwoche groß geimpft. Aber das läuft alles ziemlich undurchsichtig ab. Sicher ist, die Regierung nutzt geschenkte Impfungen als Wahlkampagne. Im staatlichen TV danken Leute nach dem Piks ihrem Comandante. Das passt zu dessen klientelistischen Sozialprogrammen und dem Bestreben, sich wie im Personenkult eines vergangenen Jahrhunderts als Retter der Nation zu profilieren. Kritik am Umgang mit der Pandemie, selbst das Aushändigen dieser Hygienepakete kommt einem subversiven Akt gleich.«
Weit entfernt scheinen die Tage, als Hunderttausende Menschen die Straßen fluteten, gegen Menschenrechtsverletzungen und für Gerechtigkeit und Demokratisierung. Barrikaden, mit denen Regierungsgegner die meisten Haupttransportwege lahmlegten, Streiks, besetzte Universitäten - sie sind blutige Geschichte. Der UN-Menschenrechtsrat verurteilt in einer Resolution im März die Repression und erinnert an die von der Organisation Amerikanischer Staaten gesetzte Frist, bis Mai Reformen einzuleiten, die freie und transparente Wahlen garantieren. Es zeichnet sich jedoch ab, dass diese unter der Ägide eines von Daniel Ortega und seiner Gattin und Vizepräsidentin Rosario Murillo kontrollierten Wahlsystems ohne Garantien für ein legitimes Prozedere stattfinden werden.
»Ortega sagt, die Demokratie folge hier anderen Regeln«, winkt Libertad ab. »Dennoch werden wir beim Wahltheater massenhaft Wahllokale aufsuchen müssen.« Nur so könne der Betrug dokumentiert werden. »Wir versuchen alles, um Gewaltfreiheit zu wahren. Leider wird es Ausschreitungen geben, da bin ich sicher. Ortega braucht keine Stimmen. Er hat die Befehlsgewalt über Polizeikräfte und Militär sowie als Paramilitärs maskierte Fanatiker, die weiterhin bereit sein werden, für ihn Blut zu vergießen.«
Den Oppositionsparteien gelingt es derweil nicht, den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung zu erlangen. Umfragen zufolge sympathisiert ein großer Teil der Nicaraguaner*innen - der Missbilligung des korrupten Modells zum Trotz - weder mit den seit 2018 gebildeten politischen Bündnissen noch mit den althergebrachten Parteien. »Ortega ist ein Meister des ›Teile und herrsche‹«, sagt Libertad. »Die Opposition ist partikularen Interessen zum Opfer gefallen und versäumt somit, ein geeintes Alternativprojekt vorzulegen.«
Nicaragua erlebt tiefe ideologische Spaltungen. »Meine Mutter war in der Revolution aktiv und ist bis dato überzeugte Anhängerin der sandinistischen Partei. Sie verstößt mich. Obwohl sie mit eigenen Augen sah, wie wir in der Universität beschossen wurden, bin ich für sie eine Lügnerin. Eine Vaterlandsverräterin.« Zu dieser Lesart der jungen Geschichte passt ein mit »Siege zum Ruhm Gottes« betiteltes Kommuniqué der Vizepräsidentin. Dort befiehlt sie die Vorbereitung von »besonderen Plänen« für das »grandiose Gedenken an die Triumphe« ihres Regimes zwischen April und Juli, in Anspielung auf den dritten Jahrestag der Unterdrückung des Aufbegehrens und zugleich den 42. Jahrestag der sandinistischen Revolution - am 19. Juli 1979.
Das mittelamerikanische Land zwischen karibischem Meer und Pazifischem Ozean scheint in einem gefährlichen Zwist zwischen gelebter Realität und fiktiver Normalität gefangen. Libertad bemerkt schließlich: »Warum noch studieren? In diesem Land habe ich weder Gegenwart noch Zukunft.«
*Um die Anonymität der Interviewpartner*innen zu wahren, wurden die Namen geändert.
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