• Berlin
  • Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg

Profiteur der NS-Barbarei

Ein digitales Ausstellungsprojekt thematisiert Zwangsarbeit bei Siemens in Berlin

  • Maximilian Breitensträter
  • Lesedauer: 5 Min.

Sie mussten schwerste körperliche Arbeit für die Kriegswirtschaft des NS-Staates leisten: Über eine halbe Million Menschen aus dem von der Wehrmacht besetzten Europa wurden während des Zweiten Weltkriegs in Berlin als Zwangsarbeiter*innen ausgebeutet und erniedrigt. Eines der Großunternehmen, die massiv vom Einsatz von Zwangsarbeiter*innen in der Hauptstadt des »Dritten Reiches« profitierten, war der Siemens-Konzern. Rund 100.000 Männer und Frauen mussten Recherchen von Historiker*innen zufolge an verschiedenen Standorten für den damaligen Branchenführer der deutschen Maschinen- und Elektroindustrie arbeiten - darunter Jüd*innen aus dem gesamten Reichsgebiet, aus dem besetzten Europa verschleppte Zivilist*innen, Kriegsgefangene, Strafhäftlinge und KZ-Gefangene.

Es ist das Schicksal dieser Gruppe von Zwangsarbeiter*innen, dem sich das Ausstellungsprojekt »Der Mensch als Ware - Zwangsarbeit bei Siemens in Berlin« widmet. Zwei Semester lang hatten sich Studierende des Master-Studiengangs Holocaust Communication and Tolerance des Touro College Berlin und der Freien Universität Berlin in Kooperation mit dem Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit intensiv mit dem Thema Zwangsarbeit bei Siemens in Berlin beschäftigt.

Herausgekommen ist unter den Bedingungen der Corona-Pandemie eine Website, die als digitale Schau Einblicke in das Leben und den Alltag der Zwangsarbeiter*innen gibt. Dabei werden zugleich aber auch die Täter*innen und Profiteur*innen der Ausbeutungsmaschinerie unter die Lupe genommen.

»Mit der Ausstellung wollen wir zeigen, dass Zwangsarbeit zum Alltag in der Reichshauptstadt gehörte«, sagt Ellen Fischer, Studentin am Touro College und eine der Kurator*innen des Projektes. In der heutigen Wahrnehmung sei kaum präsent, wie öffentlich die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs zu jener Zeit waren. Das Projekt soll daher zu einer Beschäftigung mit diesem Teil der Geschichte anregen und einen Einstieg in das Thema Zwangsarbeit bieten. »Der Vorteil des digitalen Formates ist es, dass die Ausstellung auf diese Weise einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden kann«, sagt Fischer. Mit dem biografischen Ansatz, den sie und ihre Kommiliton*innen für die Schau gewählt haben, wollen sie den Opfern ein Gesicht geben.

»Darüber hinaus war es uns ein Anliegen, das Zusammenspiel von Wirtschaft und Nationalsozialismus zu zeigen und die Unterschiedlichkeit der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vorzustellen.« So werden in der Ausstellung verschiedene Biografien präsentiert. Etwa die von Elisa Gérard: Als junge Frau wird Gérard aus dem besetzten Elsass verschleppt und muss von Mai 1942 bis 1945 Zwangsarbeit für den Siemens-Konzern im Luftfahrtgerätewerk Hakenfelde in Spandau leisten. Zwölf Stunden täglich, sechs Tage die Woche, immer die gleichen Metallstückchen herstellend. Oder das Leben des italienischen Soldaten Tiziano Di Leo: Er wird 1943 nach dem Waffenstillstand des faschistischen Italien und der deutschen Besetzung des Nordens des Landes in Ancona festgesetzt, in einem Viehwaggon nach Deutschland deportiert und zur Zwangsarbeit bei den Siemens-Schuckert-Werken in Berlin abkommandiert. Immer wieder wird Di Leo misshandelt.

Seit dem 22. April ist die multimediale Ausstellung online auf Deutsch und Englisch unter https://siemens.ns-zwangsarbeit.de zu sehen. Bei der digitalen Eröffnungsveranstaltung war auch Leon Schwarzbaum zugeschaltet. Der 100-jährige gebürtige Hamburger hat die Konzentrationslager Auschwitz, Sachsenhausen und Buchenwald überlebt. Auch er war während des Krieges bei Siemens als Zwangsarbeiter eingesetzt: 1944 wurde Schwarzbaum für das »Kommando Siemens« im Auschwitz-Außenlager Bobrek rekrutiert, im Februar 1945 kam er in das Außenlager Haselhorst in der Berliner Siemensstadt. »Ich bin einer der letzten noch lebenden Zwangsarbeiter bei Siemens«, sagte Schwarzbaum in seinem Grußwort. Die tägliche stundenlange Arbeit in den Werkshallen des Konzerns sei hart gewesen, doch »immerhin konnte ich so überleben«. Über das Ausstellungsprojekt der Studierenden habe er sich sehr gefreut. »Es ist wichtig, dass die Zwangsarbeit bei Siemens aufgearbeitet wird, und ich freue mich, dass sich junge Studierende aus Berlin dieser Aufgabe annehmen«, sagte der Schoah-Überlebende, der in Schulen und Bildungseinrichtungen über seine Erlebnisse berichtet.

Auch Ulrich Fritz, Mitarbeiter des bayerischen Antisemitismusbeauftragten, dankte bei der Auftaktveranstaltung den Studierenden für ihre Initiative. »Der Siemens-Konzern profitierte im Nationalsozialismus in erheblichem Maße von der Zwangsarbeit«, sagte der Historiker. Der Profit habe dabei keineswegs nur in einem wirtschaftlichen Sinn bestanden: »Der Konzern hat mit der Zwangsarbeit vor allem dadurch profitiert, dass das Unternehmen trotz großer Zerstörungen, Materialmangels und anderer Einschränkungen während des Krieges die Aufrechterhaltung des Betriebs gewährleisten konnte.« Dies habe Siemens nach 1945 einen großen Vorteil gegenüber der Konkurrenz verschafft.

Die Leiterin des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide, Christine Glauning, sieht das studentische Ausstellungsprojekt als Beitrag zur Aufarbeitung historischen Unrechts beim Siemens-Konzern. »Die Geschichte der NS-Zwangsarbeit bei Siemens ist bis heute nicht umfassend aufgearbeitet«, sagte Glauning bei der Ausstellungseröffnung. Das betreffe insbesondere den Einsatz der zivilen Zwangsarbeiter*innen, der Kriegsgefangenen sowie der Sinti*zas und Rom*nja. Das dem so ist, liege auch daran, dass Siemens nach 1945 lange keine Verantwortung für seine Verstrickungen in den NS-Staat übernommen habe. »Lediglich für jüdische KZ-Häftlinge stellt Siemens 1962 sieben Millionen Mark Entschädigung zur Verfügung, ohne eine rechtliche oder moralische Verpflichtung zu übernehmen«, so Glauning.

Erst mit der breiteren öffentlichen Debatte über das Thema Zwangsarbeit und verschiedenen Sammelklagen in den Vereinigten Staaten in den 90er Jahren änderte der Konzern seine Haltung. Seitdem - mehr als 50 Jahre nach Kriegsende - erinnert im Innenhof des Berliner Siemens-Verwaltungsgebäudes eine Gedenktafel »an die vielen Mitmenschen, die in den Jahren des Zweiten Weltkrieges gegen ihren Willen für Siemens arbeiten mussten«. 1998 gründete Siemens einen firmeneigenen »Humanitären Hilfsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter«, seit 2000 ist der Konzern an der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« beteiligt, seit 2010 organisiert man regelmäßig Mahn- und Gedenkstättenfahrten für Auszubildende.

Nichts und niemand darf jemals vergessen werden, sagt der Schoah-Überlebende Leon Schwarzbaum: »Wir müssen der Opfer gedenken und die Täter benennen, auch und gerade 66 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Diese Verantwortung haben wir gegenüber den Toten.«

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