• Berlin
  • Fahrraddemo im Berliner Grunewald

1. Mai: Klingeln für Umverteilung

Über zehntausend Menschen fahren friedlich im Fahrradkorso vom Berliner Grunewald nach Neukölln, Polizei eskaliert auf der gesperrten Stadtautobahn

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Fahrradklingeln sind lauter als das Geräusch des Polizeihubschraubers. Menschen jubeln. Sie freuen sich, dass sie an diesem Nachmittag soviel Platz zum Radfahren haben und sausen begeistert die zwölf Kilometer auf der für Autos gesperrten Stadtautobahn A100 entlang. »Alle Berliner*innen sollten jedes Jahr vom Senat einmal eingeladen werden, auf der autofreien Autobahn mit dem Fahrrad durch die Stadt zu fahren«, ruft eine Teilnehmerin der Fahrraddemo begeistert.

Die Aktion verlaufe störungsfrei und friedlich, sagt eine Polizeisprecherin zu der seit Stunden laufenden Aktion. Alle hielten sich an die Corona-Regeln und trugen Masken. Umso unverständlicher, dass eine Einheit der Berliner Bereitschaftspolizei auf Höhe der Abfahrt Detmolder Straße gegen 16.45 Uhr gewaltvoll gegen eine Gruppe von Teilnehmer*innen der Demonstration vorgeht, die sich an einer Stelle nahe der Leitplanke zu einer kurzen Pause versammelt haben. Die bis dahin rundum fröhliche Stimmung zerbricht in dem Moment, in dem Polizeibeamte überraschend auf die Menschen losgehen und sie mit Schlagstöcken bedrohen. Mehrere Personen werden festgehalten, eine junge Frau festgenommen. Es handele sich um eine Fahrraddemonstration, lautet die Erklärung und die Gegenfahrbahn dürfe nicht betreten werden.

Für die Demonstration waren ursprünglich 2500 Teilnehmer*innen angemeldet, gekommen waren weit über 10.000 Radler*innen. Die meisten haben zum Zeitpunkt des Polizeieinsatzes schon Stunden des 1. Mais auf dem Fahrradsattel verbracht. Sie sind seit dem Vormittag unterwegs mit einem der Korsos, die aus Wedding, Lichtenberg und Neukölln per Sternfahrt zum Großen Stern unter der Siegessäule zusammen gekommen sind, um von dort aus ihr gemeinsames Ziel, den Grunewald, anzusteuern. Dazu eingeladen hatte die Gruppe »My Gruni«, die seit mehreren Jahren dazu aufruft, am 1. Mai in das am westlichen Stadtrand gelegene Villenviertel zu kommen, um hier auf satirische Weise Anwohner*innen, von denen die meisten hier hinter hohen Zäunen in großzügigen Residenzen leben, etwas Kontakt zu anderen Teilen der Berliner Bevölkerung nahe zu bringen.

In diesem Jahr stand vor dem Hintergrund der Coronakrise das Thema Umverteilung und Enteignung ganz oben auf der Agenda. Pandemiebezogen hieß es dann auch im Aufruf: »Geübt durch Jahrhunderte des Social Distancing: Die Reichen ziehen sich zurück hinter blickdichten Hecken und ins Zwielicht des Bankgeheimnisses. Ghettoisierung und die Bildung gefährlicher Parallelgesellschaften ist die Folge«, im Grunewald drohe eine »gefährliche Desintegration«.

Pünktlich treffen gegen Mittag die »Fahrrad-Finger« nacheinander am Großen Stern ein, die Tausenden Menschen jeden Alters fahren umsichtig durch die Stadt, die Polizei begleitet sie mit einigen wenigen Fahrradstaffeln und Motorrädern, kann aber nicht verhindern, dass Autofahrer aus Seitenstraßen zum Teil aggressiv an die Demo heranfahren, weil ihnen die Sperrung der Strecke nicht passt. An der Siegessäule angekommen, genießen die Teilnehmer*innen mitgebrachten Proviant, aber auch – ihrem Ziel angemessen – Sekt und Weißwein.

In Redebeiträgen wird die wohnungs- und mietenpolitische Katastrophe angeprangert, die sich in Berlin, gerade nach dem Fall des Mietendeckels vor dem Bundesverfassungsgericht vor wenigen Wochen zu verschärfen droht. Es gelte sich zu entscheiden zwischen »Demokratischer Umverteilung oder Barbarei«, erklärt ein Sprecher vom Bündnis My Gruni. Man sei vor dem Hintergrund, dass Zehntausende Menschen in Berlin nicht genügend und viele Tausende gar keinen Wohnruam zur Verfügung haben, »gekommen, um die Enteignungsfrage zu stellen« - eine Anspielung auf das Vorhaben der Initiative »Deutsche Wohnen und Co. enteignen«, profitorientierte Wohnungskonzerne mit über 3000 Wohnungen in der Hauptstadt in der Form zu enteignen, dass das Land die Wohnungen zurückkauft und in gemeinwohlorientierte Formen überträgt. Die Initiative sammelt derweil auch an diesem Tag Unterschriften, so wie auch Vertreter*innen von »Volksentscheid Berlin Autofrei«.

Gegen 15 Uhr bricht der, laut Polizei mehr als vier Kilometer lange Korso, geprägt von Partystimmung und guter Laune, auf in Richtung Charlottenburg. Immer wieder müssen Teilnehmer*innen ihre Räder schieben, weil der Zug nur langsam vorankommt. Teilnehmer*innen singen »Besteuern, Enteignen, Umverteilen«. »10000 autonome Streetworker*innen sind gekommen, um ihnen das Konzept Umverteilung zu erklären«, heißt es dann bei der Ankunft am Ende des Kurfürstendamms. Einzelne Anwohner*innen beschauen sich die Demonstration von ihren Balkonen. Man kennt das Schauspiel aus den vergangenen Jahren, manch einer winkt lächelnd, andere schauen weniger amüsiert, immer wieder werden einzelne Villen von Ketten behelmter Polizeibeamten verstellt. Nach Angaben der Polizei sind am Samstag 5600 Polizistinnen und Polizisten in unterschiedlichen Teilen der Stadt im Einsatz.

»Ich wohne hier ja auch nur zur Miete«, sagt eine ältere Frau in der Hubertusallee. Der Grunewald sei eine nette Gegend. Dass man ihn bei den Demonstrant*innen scherzhaft als »Problemkiez« bezeichnet, weiß sie. »Jeder soll seine Meinung sagen«, sagt sie diplomatisch. Es sei in jedem Fall schönes Fahrradfahrwetter, sie fahre auch gern Fahrrad.

Zumindest diese Ansicht teilt sie mit den Kundgebungsteilnehmer*innen. Diese haben derweil schon das nächste Ziel vor Augen: Um 17 Uhr will man es über die Autobahn bis zum Neuköllner Hermannplatz geschafft haben. Der Großteil der Demonstration trifft dort dann etwas verspätet ein. Um 18.30 Uhr sprechen die Veranstalter*innen dort dann schon von 20.000 Teilnehmer*innen.

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