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Bloß weg!
In der Coronakrise wird mehr über häusliche Gewalt berichtet. Den Betroffenen hilft das bislang wenig
Gerade zu Beginn des ersten Lockdowns im vergangenen Frühjahr hieß es immer wieder: »Bleiben Sie zu Hause!« Die Menschen sollten sich vor dem Virus schützen. Was aber passiert, wenn das Zuhause gar kein sicherer Ort ist? »Wir wissen, dass der häufigste Tatort sexualisierter Gewalt innerhalb der eigenen vier Wände liegt«, erläutert die promovierte Soziologin Katharina Wojahn. »Dieses Dilemma hat uns die Pandemie noch einmal vor Augen geführt.«
Seit Jahren forscht Katharina Wojahn zu feministischen Themen und engagiert sich in der Frauenarbeit. Sie unterstützt Beratungsstellen für Opfer sexualisierter Gewalt und findet es gut, dass die Problematik seit Beginn der Pandemie mehr Aufmerksamkeit bekommt. »Das ist nach wie vor ein schambesetztes Thema. Deshalb kann es hilfreich sein, wenn in der Öffentlichkeit darüber gesprochen wird. Allerdings bekommt das in der gegenwärtigen Situation so einen Beigeschmack, als sei das Coronavirus schuld an der Zunahme häuslicher Gewalt.«
Allein in Nordrhein-Westfalen sind im vergangenen Jahr 44 Menschen an den Folgen häuslicher Gewalt gestorben. Insgesamt ist die Zahl der gemeldeten Delikte im ersten Coronajahr um 7,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf 29 155 gestiegen, wie aus einem Lagebild des Landeskriminalamts in Nordrhein-Westfalen für häusliche Gewalt hervorgeht, das erstmals erstellt wurde.
Gewalt hinter der Wohnungstür richtet sich vor allem gegen Frauen. Mit 70 Prozent war die Mehrheit der Opfer dem Lagebild zufolge weiblich, 30 Prozent männlich. Die meisten wurden Opfer einfacher Körperverletzung (64 Prozent), gefolgt von gefährlicher und schwerer Körperverletzung (14,3 Prozent) und Bedrohung (8,8 Prozent). 4,5 Prozent der Fälle drehten sich um sexuellen Missbrauch von Kindern oder Misshandlungen.
Sowohl bei der Zahl der angezeigten Delikte als auch der bekanntgewordenen Opfer erlebte die Statistik 2020 einen Höchststand. Ob das mit der Pandemie und den Lockdowns einhergeht, bewertet das LKA in dem Lagebild nicht. Es bilde nur Zahlen ab, ohne sie zu erklären, hieß es bei der Präsentation der Statistik. Das Erfassen der Datenlage sei nur ein erster Schritt, um dann weitere zu unternehmen, erklärte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) gegenüber der »Rheinischen Post«. Über die Ursachen des Anstiegs spekuliert auch er nur: »Vielleicht sind es die räumliche Enge und die fehlende Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen - vielleicht auch der gestiegene Alkoholkonsum.« Möglicherweise habe die Aggression während der Corona-Pandemie insgesamt zugenommen oder Taten würden eher angezeigt. dpa/nd
Partnerschaftsgewalt und Pandemie
Die Pandemie stellt viele Familien und Partnerschaften vor große Herausforderungen. Zukunftsängste, Einschränkungen im Alltag und finanzielle Sorgen schaffen Stress. Das kann zu Streit, Aggressionen und manchmal auch Gewalt führen. In dieser Situation ist es Katharina Wojahn wichtig, daran zu erinnern, dass die eigentlichen Ursachen für Partnerschaftsgewalt nichts mit der Pandemie zu tun haben: »Häusliche Gewalt ist ein Gemisch aus Bedrohungssituationen. Es geht um körperliche, psychische und sexualisierte Gewalt in der eigenen Wohnung. Ich finde es problematisch, wenn jetzt das Virus mit solchem Missbrauch in Verbindung gebracht wird, obwohl wir wissen, dass es tatsächlich um Machtverhältnisse geht. Meist sind es männliche Täter, die Macht über ihre Partnerin ausüben wollen. Bislang kenne ich keine Zahlen, die mir Auskunft geben könnten, ob die Pandemie das verstärkt und deshalb mehr Gewalt stattfindet.«
In einer gesunden Partnerschaft bemühen sich beide um ein liebevolles Miteinander. Ein Aggressor verfolgt andere Ziele. Es stärkt sein Selbstwertgefühl, wenn er alle Lebensbereiche und sogar die Gefühlswelt der Partnerin kontrolliert. Der Ursprung des Missbrauchs ist sein Bedürfnis, sich in der Beziehung machtvoll zu fühlen. Eine betroffene Frau, die es nicht schafft, sich erfolgreich zu wehren, kann abhängig von dem Mann werden. Sie glaubt ihm, wenn er sagt: »Ohne mich bist du nichts. Ohne mich kannst du nichts. Ohne mich hast du nichts.« Ihr Selbstvertrauen schwindet, während er sich mächtig fühlt.
Hilfsangebote reichen nicht
Eine Betreuung, die zur Stärkung der Frauen beiträgt, braucht Zeit, geschultes Personal und angemessene Ausstattung. Das Angebot in Deutschland reicht längst nicht aus, klagt Beatrice Tappmeier, die ein autonomes Frauenhaus leitet. »Die derzeitige Aufmerksamkeit hat wenig an dem Mangel verändert. Es gibt deutlich zu wenige Plätze. Die Frauenhäuser sind voll, zum Teil übervoll. Wir müssen viele Frauen abweisen, nicht wegen Corona, sondern immer.«
Die rund 360 Frauenhäuser in Deutschland mit ihren etwa 6400 Betten decken längst nicht den Bedarf. Das wirkt sich auf die Arbeit vieler Organisationen aus, die Frauen in Not unterstützen. Eine davon ist der Weisse Ring. Die Opferhilfsorganisation wurde 1976 gegründet. Seither übernehmen meist Ehrenamtliche den direkten Kontakt zu den Betroffenen. Die pensionierte Polizeibeamtin Ilse Haase sucht immer wieder nach Unterkünften für gefährdete Frauen. »Zu Beginn der Coronazeit war das ein massives Problem. Die Frauenhäuser konnten keine neuen Frauen mehr unterbringen. Wenn jemand verfolgt wird und fliehen muss und die Frauenhäuser voll sind, dann hat der Weisse Ring die Möglichkeit, eine Ferienwohnung oder ein Zimmer anzumieten.«
Die schnelle, unbürokratische Hilfe ist eine große Stärke des Weissen Rings, nicht zuletzt, weil sich die Ehrenamtlichen auch privat engagieren. Ilse Haase erzählt von einem Fall während des Lockdowns, als die Baumärkte geschlossen waren: »Die neue Wohnung musste hergerichtet werden. Es gab keine Farbe, kein Malerwerkzeug. Da habe ich der Frau privat meine Sachen geliehen, Leiter, Pinsel, Kittel, all so was. Sie konnte sich die neue Wohnung schön machen. So fällt es leichter, sich von dem früheren Leben zu verabschieden.«
Das Leben in den Frauenhäusern hat sich längst an die neuen Bedingungen angepasst. Der Alltag verläuft nicht viel anders als vor der Pandemie, meint die Leiterin Beatrice Tappmeier: »Das sind oft ganz normale Wohnhäuser. Da wuseln die Familien rum, putzen zusammen und rufen sich irgendwas zu. Die Kinder spielen im Treppenhaus. Der Lärmpegel ist oft sehr hoch. Daran hat Corona nichts geändert.«
Die Bewohnerinnen tragen keine Masken. Sie benutzen dieselben Badezimmer und kochen gemeinsam in der Küche. Anders wäre es auch gar nicht möglich. Die Pädagogin Tappmeier aber trägt eine Maske und hält Abstand. »Natürlich haben wir ein Hygienekonzept. Zum Beispiel führen wir die Beratungsgespräche jetzt in einem etwas anderen Rahmen. Aber das hat die Qualität nicht verändert. Die Frauen weinen, wenn es was zu weinen gibt, und lachen, wenn es was zu lachen gibt.«
Zu Beginn der Pandemie hatten viele städtische Frauenhäuser mit einer Welle von Anfragen gerechnet. Die ist bisher ausgeblieben: »Ich jedenfalls habe noch keine einzige Geschichte einer Frau gehört, die gesagt hätte: ›Na ja, bis dahin ging’s, aber dann kam Corona, und dann wurde es ganz schlimm.‹ Das hat noch keine Frau gesagt.«
Auch Ilse Haase hat keine Zunahme der Fälle häuslicher Gewalt wahrgenommen. Seit fünfzehn Jahren ist sie für den Weissen Ring engagiert. Sie hat schon vor der Pandemie beobachtet, dass Frauen, die von ihrem Mann geschlagen werden, nur sehr wenige soziale Kontakte haben. »Meist bleiben sie zu Hause und achten auf Abstand zu anderen Menschen. Sie werden einfach menschenscheu, weil sie niemandem trauen. In vielen Fällen hat die Frau kein eigenes Konto. Der Mann teilt ihr das Geld zu. So macht jeder Einkauf ein schlechtes Gewissen.«
Exzessive Kontrolle der Finanzen ist eine typische Begleiterscheinung gewalttätiger Partnerschaften. Übermäßig eifersüchtige Partner regeln alle Ausgaben und unterbinden Kontakte nach außen. »Solche Familien isolieren sich selbst«, weiß Ilse Haase. »Da geht keiner mehr hin. Und es wird keiner mehr eingeladen. Es könnte ja plötzlich zu einem Gewaltausbruch kommen. Das wäre peinlich. So eine Familie war schon vor Corona isoliert. Womöglich merken die Frauen gar keinen großen Unterschied durch den Lockdown. Sie kennen es ja nicht anders.«
Frauen, die in Hilfsorganisationen arbeiten, wissen: Die Realität von Menschen, die unter häuslicher Gewalt leiden, verändert sich nicht aufgrund kurzfristiger gesellschaftlicher Krisen. »In den Medien wurde es häufig so dargestellt, als würde die häusliche Gewalt aufgrund der Lockdowns enorm ansteigen, aber in den Frauenhäusern zeigt sich das zahlenmäßig nicht«, stellt Beatrice Tappmeier fest. »Natürlich ist es in unserem Interesse, wenn vermehrt über unser Thema berichtet wird. Und manches ist auch solide Berichterstattung. Aber manchmal wird wild spekuliert und dann denke ich mir: ›Nee, das kenne ich so nicht.‹«
Wenig nachhaltige Verbesserung
Die Soziologin Katharina Wojahn freut sich, dass das Thema häusliche Gewalt zurzeit mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit findet als sonst. Aber sie macht sich Sorgen, durch den Hype könnte aus dem Blick verloren gehen, dass es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt. »Wir alle tragen Verantwortung dafür, in was für einer Gesellschaft wir leben. Es darf nicht sein, dass sexualisierte Gewalt zu einem individuellen Problem degradiert wird. Das Thema geht uns alle etwas an.«
Die meisten Frauenberatungszentren organisieren Öffentlichkeitskampagnen zur Gewaltprävention. Doch gerade diese Aufklärungsarbeit werde durch die Coronakrise stark eingeschränkt, beklagt Katharina Wojahn: »Früher sind wir immer rausgegangen, hatten Präsenzveranstaltungen in Frauenkursen, Integrationskursen, Sprachkursen. Das alles ist jetzt weggefallen.«
Wenn engagierte Frauen wie Katharina Wojahn etwas bewegen wollen, müssen sie kreativ sein. Hilfsorganisationen für Gewaltopfer sind meist unterfinanziert. Doch zumindest in einem Bereich hat die Pandemie etwas verändert: Seit Beginn der Krise wurden viele Sachkosten erstattet, und es gibt Förderprogramme zur Digitalisierung. Dadurch sind die Onlineangebote verbessert worden und erreichen jetzt mehr Leute. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat mehrere Millionen Euro für die Ausstattung von Hilfsorganisationen mit Computern zur Verfügung gestellt und für Fortbildungsseminare im Bereich Social Media. Davon haben auch die Frauenhäuser profitiert, berichtet Beatrice Tappmeier: »Zum Beispiel konnten wir Schülerinnen Tablets kaufen, wenn sie die für ihre Schularbeiten brauchten.«
Die Pandemie hat kurzfristig ein Schlaglicht auf die Problematik häuslicher Gewalt geworfen. Diese Sensibilisierung der Gesellschaft war wertvoll, meint Tappmeier. »Aber ich erwarte nicht, dass es zu langfristigen Veränderungen kommt. Schon seit Jahren gibt es den Ruf nach mehr Frauenhausplätzen und nach einer etwas solideren, einheitlicheren Finanzierung. An diesen Mängeln wird auch das Coronavirus nichts ändern.«
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