- Kultur
- Verhältnis zwischen Deutschland und Russland
Erwartungen und Enttäuschungen
Alexander Rahr appelliert: »Rettet die deutsch-russischen Beziehungen«
Deutschlands Umgang mit Russland - daran scheiden sich die Geister. Die einen reden von »Eindämmung«, die anderen von notwendigem Zusammenwirken. Dass von guten Beziehungen zwischen beiden Ländern »die künftige Friedenssicherung auf dem europäischen Kontinent abhängt«, meint nicht nur Gabriele Krone-Schmalz, die das Vorwort zum neuen Buch von Alexander Rahr verfasst hat, der es selbst »einen Schrei des Verzweifelten« nennt. »Rettet die deutsch-russischen Beziehungen«, lautet sein Appell. Es wird genügend Leser geben, die darin mit ihm übereinstimmen. Wie sich die deutsche Politik gegenüber Russland zum Schlechten verändert hat, ist in der Tat besorgniserregend.
Dabei hatte es 1990 die Hoffnung auf ein europäisches Haus gegeben, auf einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zwischen Lissabon und Wladiwostok. Doch das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen der EU mit Russland ist seit Jahren auf Eis gelegt, und seit Juli 2019 herrscht zwischen Vertretern Russlands und der Nato Funkstille. Wenn Bundesaußenminister Heiko Maas Möglichkeiten eines künftigen Dialogs nicht ausschließt, beteuert er im gleichen Atemzug, dass die »russische Aggression und Desinformation« einer »geschlossenen Antwort der Nato« bedürften. So weit wie Biden, der Putin kürzlich als Mörder bezeichnete, würden deutsche Politiker nicht gehen, doch sie übernehmen praktisch dessen Feindbild. Nach einer kurzen Pause, als Michail Gorbatschow und Boris Jelzin dem Westen Machtgewinn verschafft hatten, ist der Kalte Krieg wieder aufgeflammt. Die Sowjetunion zog ihre Truppen aus Deutschland ab, aber die USA blieben mit ihren Atomwaffen auf deutschem Boden. Die Nato hat sich längst bis auf das Territorium der einstigen Sowjetunion ausgedehnt. Der Spielraum eigenständiger deutscher Politik, so überhaupt angestrebt, ist eng. Und die EU muss mit der Russophobie aus Osteuropa leben.
In dieser verfahrenen Situation ist das Buch mehr als ein Verzweiflungsschrei. Alexander Rahr, 1959 in Taiwan geboren und in einer russischen Emigrantenfamilie in Westdeutschland aufgewachsen, verweist auf historische Bezüge, die kaum beachtet werden. Etwa dass Russland, geprägt durch die byzantinische statt durch die weströmische Tradition, seit dem Schisma von 1054 für den Westen als »ein Fremdkörper« galt, den man zu »zivilisieren« trachtete - was sich jetzt zu wiederholen scheint. Wobei ich angesichts der belehrenden Herablassung heute gegenüber Russland eher an jüngere Vergangenheit denke: an das antikommunistische Erbe aus NS-Zeiten, das, in der BRD, nur oberflächlich überwunden, in der Tiefe fortlebt. Merken die betreffenden Politikerinnen und Politiker nicht, wie peinlich sie wirken in ihrer naiven Überheblichkeit? Wie sie, auf ihre moralische Werteskala pochend, selber moralische Werte verletzen, nicht nur im diplomatischen, sondern auch einfach im zwischenmenschlichen Sinne? Wer Beleidigungen ausspricht, kalkuliert die Gegenreaktion ein, ja, will sie vielleicht sogar.
Dass Russland sich vom Westen »nicht belehren« lässt, wie Alexander Rahr schreibt, trifft auf die schier unglaubliche Borniertheit von Leuten, die »Russland-Versteher« zum Schimpfwort gestempelt haben. »Anmaßung« eben, wie der Titel des Buches sagt. »Ja: Man will Russland aus der Barbarei in das fortschrittliche, aufgeklärte Europa überführen. Doch nein: Über eine unterschiedliche russische Weltsicht oder die besondere russische Interessenlage etwas zu erfahren, ist in Deutschland für die wenigsten von Belang.« Dass Deutschland dadurch sein Ansehen bei den Russen verspielt, tut dem Autor besonders weh, weil er sich zwischen diesen beiden Völkern fühlt. Mit seinem Buch will er Aufklärung leisten - auf überraschend vielstimmige Weise.
Dass da Russinnen und Russen nur unter ihren Vornamen zu Wort kommen, hatte für mich zunächst etwas Irritierendes. Wer waren Anna, die Coachin, Alewtina, die Konfliktforscherin und Jewgenija, die Meinungsexpertin? Wie sollte ich den wehrhaften Diplomaten Volodja, den standhaften Patrioten Mischa, den »Deutschland-Versteher« Alexei und den »interkulturellen Kämpfer« Peter denn vor mir sehen? Bald aber verstand ich, dass es sich hier nicht um Porträts, sondern um ein Meinungsspektrum handelt. Dafür hat Alexander Rahr Aussagen verschiedener Personen zusammengestellt, die er kennt, die nicht fiktiv, aber anonymisiert sind, wie er bekundet. Sei’s drum, es ist interessant, im Pauschalurteil auch manchmal kurios.
»Der Russe hat eine tiefere Einstellung zum Leben, er leidet, während der Deutsche pragmatisch lebt«, heißt es da. Gelobt werden »Pünktlichkeit, Disziplin, Wahrheitsliebe, Selbstsicherheit, Unabhängigkeit« der Deutschen. Allerdings gelten sie als humorlos und überheblich in der Art, wie sie heute den »westlichen Liberalismus als einzig tragbares Gesellschaftsmodell in der Welt propagieren«, so wie sie früher die Welt »beglücken« wollten »und in Wirklichkeit die menschliche Zivilisation fast ruinierten«.
Aufschlussreich, wie Alewtina, die Konfliktforscherin, einen geschichtlichen Bogen schlägt von Zar Peter I. bis zur heutigen transatlantischen Orientierung der deutschen Eliten. Dass die russische Seite jetzt »auf stur geschaltet hat«, ist verständlich, aber auch fatal. Dass Putin doch »germanophil« sei, bekundet Volodja, der Diplomat. Die ausgestreckte Hand sei aber ausgeschlagen worden. Die Sanktionen seien weniger schädlich als die Demütigung, sagt die Meinungsforscherin Jewgenija.
Dass Deutschland als »hochentwickelte Demokratie« gilt und viele junge Russen gern dort leben würden wegen besserer Karrierechancen und sozialer Absicherung, mag einen durchaus auf den Gedanken bringen, dass in der geopolitischen Konkurrenz zuerst der Wohlstand im eigenen Lande zählt. Aber ist das wirklich so? In den USA leben 13 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, in Russland 12,3 Prozent. In Deutschland sind 15,9 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht, wobei dies eine Aussage nach hiesigen Standards ist, getragen von der Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit.
Man möchte sich zum Band noch einen Analytiker hinzudenken, der die Vorwürfe gegen Russland als das entlarvt, was sie sind: mediale »Waffen«, um das eigene System zu verteidigen. Dass Werte so einfach exportiert werden könnten, glaubt doch niemand im Ernst. Es ist ein machtpolitischer Kampf mittels Wirtschaftssanktionen und Propaganda vor dem Hintergrund wachsenden Rüstungspotenzials als Drohkulisse.
Dass Russland sich als eigenständiges Machtzentrum behaupten würde und eine Allianz auch Deutschland zugutekäme, muss US-amerikanischen Interessen zuwiderlaufen. Der Übergang von einer monopolaren zur multipolaren Weltordnung lässt überall Konflikte aufflammen. Da kommt die neue Weltmacht China im Band nur beiläufig vor. Wie gegen Schluss ein rätselhafter Fremdling Russland vor einer Gefahr aus Asien warnt und auf Rhodos die möglichen Nachfolger von Putin und Merkel in einen klugen, offenen Wortwechsel treten, fühlt man sich an Alexander Rahrs Thriller »2054« erinnert.
»Dass Deutschland irgendwann einmal die amerikanische Schutzmacht gegen eine russische umtauscht, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen«, sagt der Deutsche. Hinzuzufügen wäre, dass Schutzmächte nicht uneigennützig sind. »Um Kohl für weitere Hilfsleistungen freundlich zu stimmen, lieferte der Kreml … Honecker aus«, sagt Volodja, der Diplomat. Das war indes nur die Spitze des Eisbergs. Wie viele DDR-Bürger mit der Freundschaft zur Sowjetunion im Herzen wurden auf dem Wege zur deutschen Einheit, die Gorbatschow sich als Verdienst anrechnete, im Regen stehen gelassen. Selbstständigkeit in der Westpolitik gestand er der DDR nicht zu, die er selbst als seine Verhandlungsmasse sah.
Freundschaft hin oder her, im Zweifelsfall galt das eigene Interesse. Gorbatschows Partner waren BRD und USA. Mehr noch als auf die Deutschen habe sich die neue russische Politikkaste damals nach Übersee orientiert, so Alexej, der »Deutschland-Versteher«. »Vermutlich wollte Moskau selbst aus Prestigegründen seine Probleme nur auf Augenhöhe mit der wichtigen Supermacht USA lösen, um seinen eigenen Stellenwert hochzuhalten.«
Prestige und Stellenwert: Das Buch lesend begreift man, wie hoch solche emotionalen Gesichtspunkte in der Weltpolitik doch veranschlagt werden und wie fatal es ist, das größte Land der Erde in seinem Selbstverständnis zu beleidigen. Wobei Größe auch derjenige zeigt, der sich schlichtweg nicht beleidigen lässt, der nicht Gleiches mit Gleichem vergilt. Leicht gesagt. Wenn Erwartungen zu Enttäuschungen werden, bleibt ein Schmerz zurück.
Alexander Rahr: Anmaßung. Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt. Mit einem Vorwort von Gabriele Krone-Schmalz. Das Neue Berlin, 173 S., br., 16 €.
Der nd-Literatursalon mit Alexander Rahr am 5. Mai ist ab 18 Uhr auf der Webseite des »nd« und später noch auf Youtube zu sehen.
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