Dem Begehren auf der Spur

Mechanik der Leidenschaften: »Phädra« in der Regie von Anne Lenk am Staatstheater Nürnberg

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 5 Min.

Kaum ist der Mann aus dem Haus, schon entwickelt die Frau Gelüste für den Stiefsohn. Das könnte grob der Auftakt zu einem jener Filmchen sein, die meist nicht viel Handlung brauchen, weil sie anderes in den Vordergrund stellen: nackte Haut, erregte und bewegte Glieder, Körperflüssigkeiten. So beginnt aber auch eine Tragödie, die bis heute als eine der größten gilt: »Phädra« von Jean Racine.

Den Stoff hatte der französische Dichter des 17. Jahrhunderts nicht neu erdacht, er griff auf die Antike zurück. Bereits Euripides und Seneca hatten die Inzest-Story mit dem tragischen Ende für publikumstauglich befunden und bearbeitet. Hierzulande ist vor allem die Übersetzung von Friedrich Schiller bekannt. Die nimmt auch die Regisseurin Anne Lenk am Staatstheater Nürnberg zur Vorlage ihrer Inszenierung - eine Wahl, mit der man wenig falsch machen kann. Und dass Lenk Schiller’sche Verse in Szene setzen kann, zeigte sie kürzlich mit »Maria Stuart« am Deutschen Theater in Berlin. Französische Klassik liegt ihr auch, am selben Haus erarbeitete sie »Der Menschenfeind« von Molière.

Am vorvergangenen Freitag feierte nun »Phädra« Premiere als Videoaufzeichnung. Die solche Lösungen erzwingenden Umstände werden noch eine Weile andauern - seit Monaten werden Perspektiven für kulturelle Veranstaltungen angemahnt, stattdessen gibt es nun den Dauer-Lockdown und weiterhin keine Antwort. Das sollte auch bedenken, wer Schauspieler für nicht befugt hält, die herrschende Politik mit ihren eigenen Mitteln der Sprache und Verstellung zu kritisieren.

Phädras Drama ereignet sich in einem Raum, der rundum mit Jalousien versehen ist. Gespielt von Ulrike Arnold, ist sie eine den Schatten und die Dunkelheit suchende Frau im strengen Kostüm mit toupiertem Haar, irgendwo zwischen Hannelore Kohl und Hillary Clinton. Bei der Nachricht vom Tod ihres Gemahls Theseus zieht es ihr für einen Moment die hochhackigen Schuhe aus. Kurz darauf hat sie diese aber wieder an - und auch der Gatte (Michael Hochstrasser) zeigt sich plötzlich lebendiger als erwartet und gewünscht. Es dringt kaum Licht in das mit dunklem Teppich ausgelegte Gemach mit dem Lederliegesessel nebst Taschentuchspender und dem Schreibtisch, bestückt mit der kristallenen Whiskykaraffe. Das schaut aus wie eine modernistische Mischung aus Privatdetektivkanzlei und psychoanalytischer Praxis in einem Film noir, selbst durch den Bildschirm meint man den kalten Rauch der Havannas riechen zu können.

Die Bühne von Judith Oswald scheint geradezu in modrigen Brauntönen zu ersticken, was sich in den Kostümen von Sibylle Wallum fortsetzt. Die sind zugleich körperbetont wie einengend, Leder knautscht und knarzt und knarrt, der Raum füllt sich trotz karger Einrichtung mit Spannung.

Nur gelegentlich fallen ein paar Lichtstrahlen in den Raum, kaum zum Vergnügen der lichtscheuen Phädra. Sie, die Enkelin des Sonnengotts Helios, hat ein ambivalentes Verhältnis zur Helligkeit. Denn es sind ihre eigenen Empfindungen, die sie vor allzu greller Beleuchtung zu bewahren versucht. Einsam lässt sie die Hand niederfahren auf das vom glänzenden Stoff fest umspannte Gesäß, voll unerfüllter Sehnsucht, es könnte die eines anderen sein. Aus Scham über ihr eigenes Begehren sucht sie den Schutz des Dämmrigen. Und ob sie offenbaren soll, was sie bewegt, was sie zittern und erschaudern macht, ist letztlich der zentrale Konflikt des Stücks.

Als sie es sagt, ist es zu spät, der von ihr begehrte Hippolyt (Maximilian Pulst) wurde verleumdet, vom Vater verstoßen und von einem Ungeheuer getötet, und in ihren Adern fließt schon das selbst eingeflößte tödliche Gift. Hippolyt leidet zuvor geradezu spiegelbildlich, denn obwohl dem Vernehmen nach eher gefühlskalt, kann er sich doch für Arikia (Llewellyn Reichman) erwärmen. Blöderweise entstammt sie einem verfeindeten Herrscherclan, wird deswegen von Theseus gefangen gehalten und mit Ehe- und Kinderlosigkeit belegt. Das Gesetz des Vaters, es hält Phädra wie Hippolyt im Bann. Kein Wunder, dass sie sich erst aus der Deckung wagen, als die Nachricht von seinem vermeintlichen Tod eintrifft. Umso härter trifft sie die Rückkehr des Patriarchen.

Lenk nimmt das Stück beim Wort, trägt keine äußerliche Aktualisierung heran, sondern offenbart den psychologischen Konflikt, der zugleich ein sozialer ist. Dass Tabu und Verstoß, Verbot und Lust zusammenhängen, ahnt man bereits. Und zudem, dass der Unterschied zwischen Porno und Tragödie kleiner als gedacht sein könnte. Er liegt möglicherweise nur zwischen der Illusion des unendlichen, immer unproblematischen, immer folgenlosen, also eigentlich cleanen Begehrens - ob Stiefsohn, Kindermädchen oder Postbote - auf der einen und dem real unmöglichen Begehren auf der anderen Seite.

Phädras Problem ist es, dass sie das alles versteht. Sie weiß, es ist unmöglich. Sie weiß, es ist verboten. Und sie weiß auch, dass die sprachliche Enthüllung ihrer Lust den sozialen Tod zur Folge hat. Und doch kann sie nichts dagegen tun. Oder will es nicht, weil es zugleich die Quelle ihres Genießens ist: die berühmte Leidenschaft, die Leiden schafft. Aber würde sie verzichten? Könnte sie das obskure Objekt ihrer Begierde einer anderen überlassen? Niemals.

»Phädra« ist das Drama einer phänomenalen Verwirrung, die dem Sexuellen eigen ist. Nichts sonst ist das Thema. Allein die Frage, wie man dieses verwirrende Begehren entbergen kann, ohne von der eigenen Gewissensinstanz, den Urteilen seiner Mitmenschen oder der Angst vor diesen in den Wahnsinn oder den Tod getrieben zu werden. Eineinhalb Stunden folgt man der präzisen, klugen und hervorragend gemachten Inszenierung von Lenk und ihrem Ensemble - jener unausweichlich sich steigernden Mechanik der Leidenschaften, die der seriellen Pornografie unbekannt ist (was den Verdacht erhärtet, dass man bei Racine und Molière mehr oder anderes über Sex erfahren kann als auf YouPorn). Wie bei jeder Tragödie steht am Ende die Frage, was der bessere Ausgang gewesen wäre. Und wie bei jeder großen Tragödie wird man zu dem Schluss kommen, dass die Lösung nicht im Verhalten einer Einzelperson liegt, sondern im Verhältnis der Menschen zueinander.

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