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Fliegendes Talent

ZIRKUS Europa

  • Sven Goldmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Wahrscheinlich hat sich Kai Havertz früher in Leverkusen gar nichts Besonderes dabei gedacht, wie er seine Tore gefeiert hat. Irgendwas muss man halt machen, also hat er die Arme weit ausgebreitet und ein bisschen auf und ab bewegt. In der Bundesliga ist das nicht weiter aufgefallen. Sehr wohl aber in England. Ganz besonders, nachdem feststand, dass das größte deutsche Talent der vergangenen Jahre zum FC Chelsea wechseln würde.

An der Stamford Bridge hatten sie schon mal einen, der seine Tore im Stil eines Segelfliegers zelebrierte. Zwischen 2004 und 2015 war das die »Drogba celebration«, der Jubel einer Vereinsikone, die Chelsea den bisher größten Erfolg in der 116 Jahre währenden Klubgeschichte ermöglichte. Im Mai 2012 führte Didier Drogba die Blues im Finale von München gegen den FC Bayern zum Gewinn der Champions League. Natürlich schoss Drogba dabei sein Tor. Und natürlich feierte er es mit weit ausgestreckten Armen. An diesem Mittwoch spielen Havertz und Chelsea daheim gegen Real Madrid um den abermaligen Einzug ins Finale. Nach dem 1:1 im Hinspiel sieht es ganz gut aus. Aber ob Kai Havertz mit dabei ist?

Thomas Tuchel ist sich da nicht so sicher. Der deutsche Trainer ließ den deutschen Offensivspieler am Sonnabend beim Ligaspiel gegen Fulham mal wieder von Anfang an spielen. Havertz hat sich angemessen bedankt - mit zwei Toren beim 2:0-Sieg, womit er seine Saisonquote verdoppelte. Der 21-Jährige hat ein schwieriges Jahr hinter sich, mit Verletzungen, Eingewöhnungsproblemen und Corona. »Es gibt viele Gründe«, sprach Tuchel, »aber am Ende bist du für dich selbst verantwortlich, und Kai ist es auch.«

Auch Didier Drogba hatte einen verhaltenen Start in Chelsea. Aber wer will die beiden ernsthaft vergleichen? Hier der bullige Stoßstürmer aus Abidjan, dort der schlaksige Techniker aus Aachen, der bei einer Ablöse von geschätzten 80 Millionen Euro im vergangenen Sommer doppelt so teuer war wie einst Drogba. Aber auch dieser Irrsinn gehorcht ja bekanntlich keinen logischen Gesetzen. Drogba war 2004 eher widerwillig nach London gekommen. Er wäre viel lieber in Marseille geblieben, traf dann aber in 254 Spielen 104 mal für die Blues, darunter jenes Tor kurz vor Schluss im Champions-League-Finale 2012 gegen die Bayern. Da war er 34 Jahre alt.

Wahrscheinlich hatten sie das im Training tausendmal geübt: Eckball von Juan Mata auf den kurzen Pfosten; noch bevor ein Gegenspieler mit zum Kopfball gehen konnte, stellte sich Frank Lampard dazwischen, auf dass Drogba freie Bahn hatte und den Ball mit ins Tor rammen konnte. Genauso brachten sie es zur Aufführung, nach dem einzigen Eckball für Chelsea in 120 Finalminuten. Als Komparsen wirkten mit: Bayerns hilfloser Innenverteidiger Jerome Boateng und der bedauernswerte Torwart Manuel Neuer, der nur eine brenzlige Situation erlebte. Es war eine zu viel und für die Bayern der Anfang vom Ende.

Später hielt Drogba eine kleine Rede. Es ging dabei weder um das 1:1, noch um sein alles entscheidendes Tor zum 4:3 im Elfmeterschießen. Drogba hat nie gern über sich geredet, umso lieber aber über andere. Über »unsere fantastischen Fans, die uns nach dem Rückstand zurück ins Spiel gebracht haben«. Über seine Trainer in acht Jahren bei Chelsea: »Ich bedanke mich bei allen, sie haben aus mir einen besseren Fußballer und einen besseren Menschen gemacht.« Über seinen Kollegen Petr Cech, »den besten Torhüter der Welt«. Und natürlich über Chelsea: »Ein großer Tag für unseren Klub.«

Ob Kai Havertz auch mal solch eine Rede halten wird? Er muss zunächst in seinen jungen Jahren jene Herausforderung bestehen, die auch Drogba durchmachte: nach einem schwierigen ersten Jahr bei Chelsea durchstarten. Das Spiel gegen den FC Fulham war ein Anfang, Havertz bejubelte seine beiden Tore übrigens bewusst mit nur wenig ausgefahrenen Armen. Bloß nicht abheben - erst recht nicht wie ein Segelflieger. Noch nicht.

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