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- Proteste in Kolumbien
Die Wut ist viel größer als die Angst
Proteste in Kolumbien gehen trotz erster Zugeständnisse weiter
Bis nach Berlin hallte der Schmerz der Menschen, die in Kolumbien zur Zeit unter dem Terror der Regierung leiden. Am 5. Mai zogen Hunderte Demonstrierende vom kolumbianischen Konsulat zum Brandenburger Tor. »In Kolumbien auf eine Demo zu gehen, bedeutet, dass du getötet oder vergewaltigt werden kannst - und darüber wird hier kaum geredet«, erklärt Valeria Gaviria ihre Motivation, um auf die Straße zu gehen. Die Studentin lebt seit zwei Jahren in Berlin, aber: »Die Menschen in Kolumbien kämpfen auch für mich, sie setzen ihr Leben aufs Spiel, hier fühle ich mich ohnmächtig.« Hinter ihr steht »Stoppt die Massaker in Kolumbien« auf einem Plakat. Massaker - anders kann man wohl nicht nennen, was sich dieser Tage in Kolumbien abgespielt hat.
In Zahlen der Nichtregierungsorganisation Temblores: 37 Tote seit dem 28. April, darunter Minderjährige. 98 Mal setzte die Polizei scharfe Munition ein. Elf Fälle von sexualisierter Gewalt durch die Polizei wurden gemeldet. Die für die Suche von Verschwundenen zuständige »Unidad de Búsqueda« spricht von 379 Menschen, die vermisst werden. Die meisten der Gewalttaten passieren nachts, erst Stück für Stück werden Informationen am nächsten Morgen zusammengetragen, nicht alle sind gesichert. Aus Cali und Medellín berichten Einwohner*innen, dass in der Nacht zeitweise Strom und Internet gedrosselt wurden, als die Polizei Demonstrierende angriff.
Seit Ende April organisieren ländliche und städtische soziale Bewegungen und Gewerkschaften in Kolumbien Proteste und einen Generalstreik. Der Auslöser: eine angekündigte Steuerreform der rechten Regierung unter Präsident Iván Duque. Mit ihr sollen die Staatseinnahmen erhöht werden: Eine Reform der Mehrwertsteuer, wodurch die Kosten für Produkte des täglichen Bedarfs wie Eier, Fleisch, Hygieneartikel oder auch Wasser, Licht und Gas steigen; dazu eine Erhöhung der Einkommenssteuer für niedrige und mittlere Einkommen - die reicheren Kolumbianer*innen und Unternehmen blieben weitestgehend verschont.
Dabei leidet die ärmere Bevölkerung bereits enorm unter dem wirtschaftlichen Einbruch in der Pandemie. Die Armutsquote in Kolumbien schnellte nach oben, massenweise gingen kleine Läden und Geschäfte ein; Menschen essen nur noch zweimal am Tag oder hungern - auch in der vermeintlichen Mittelschicht.
Die Unterstützung für den Streik ist groß. LKW-Fahrer*innen blockierten die Verbindungsstraßen, Protestierende legten den größten Hafen des Landes lahm. Die Regierung schickte ihre Aufstandsbekämpfungseinheiten, die Jagd vor allem auf junge Menschen machten, bis die Regierung unter dem Druck nachgeben und die Reform vorerst zurücknehmen musste; auch Finanzminister Alberto Carrasquilla trat zurück. Parallel schickte Duque das Militär in die Städte.
Aber die Menschen gingen weiter auf die Straße. Ihre lang aufgestaute Wut lässt Polizei- und Mautstationen brennen und Supermärkte plündern. Die Menschen fordern Umverteilung, eine Umsetzung des Friedensprozesses mit der FARC-Guerilla, bei dem die Regierung ihre Versprechen großteils nicht eingehalten hat, sowie die Garantie der Grundrechte und eine Reform der Sicherheitskräfte in einem Land, in dem jeden zweiten Tag ein Aktivist ermordet wird. Die meisten von ihnen setzen sich für Umweltschutz oder gegen den Anbau von Drogen ein. Die Täter bleiben meist straffrei - in vielen Fällen steckt das Militär selbst hinter den Hinrichtungen.
Die Regierung Duque steht in der Tradition des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, mit exzessiver Gewalt wirtschaftliche Interessen der Reichen und eine ständige Umverteilung von unten nach oben durchzusetzen. Dementsprechend gering sind die Erwartungen der Demonstrierenden an den Präsidenten, der sich am 10. Mai mit dem Streikkomitee treffen will. Frieden und soziale Gerechtigkeit wird es mit dieser Regierung nicht geben.
Bereits im November 2019 und im September 2020 rollten große Protestwellen durch das Land, bevor die Pandemie sie stoppte. Dieser Faden wird jetzt aufgenommen. Noch hat der Generalstreik seine Ziele nicht erreicht.
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