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Waldmenschen
Junge Leute protestieren in Oberschwaben gegen den Ausbau einer Kiesgrube und erproben ein freies Zusammenleben
Es ist drei Uhr morgens. Im Wald ist es stockdunkel. Die Baumkronen lassen nur einige Strahlen blassen Mondlichtes auf die Baumhäuser durchdringen. Ein Wecker klingelt, Stirnlampen leuchten auf den Boden einige Meter weiter unten. Zwei Gestalten seilen sich ab, grüßen sich müde und steigen auf ihre Fahrräder. Sie radeln bis zu einem Haus und holen aus einer Garage ein Paket heraus. Dann fahren sie weiter auf einer einsamen Straße, biegen nach einigen Hundert Metern ab und verstecken ihre Räder. Mit gedämpftem Licht laufen sie durch den Wald.
Auf einmal lichten sich die Bäume, und sie stehen inmitten einer Mondlandschaft aus Stein und Staub. Eine Kiesgrube erstreckt sich vor ihren Augen, groß wie zwei Fußballfelder. Die Vermummten erklimmen einen Bagger und hängen ein Banner auf. Ihre Stirnlampen leuchten auf die bunten Buchstaben: »Betritt der Meichle Moor oder Wald, flutet der Kies sein Konto bald«. Für Außenstehende mag das wenig verständlich klingen, doch der Spruch ergibt Sinn: Wir befinden uns im Altdorfer Wald in der Nähe von Ravensburg in einer Kiesgrube des Unternehmens Meichle + Mohr. Im Herbst könnte sie schon erweitert werden, 15 000 Bäume sollen dafür gefällt werden. Neben Sand ist Kies ein wichtiger Baustoff für Beton, der für den aktuellen Bauboom unverzichtbar ist. Die beiden Vermummten verschwinden auf ihren Fahrrädern in der Dunkelheit. Sie sind Aktivisten der Waldbesetzung und wollen sich einer Rodung entgegenstellen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Der Altdorfer Wald ist ein fast 20 Kilometer langer Höhenzug in Oberschwaben unweit des Bodensees. Die Landschaft wurde von der Würmeiszeit geprägt; mit den schmelzenden Gletschern lagerte sich dort Kies ab. Die Vorkommen liegen unter dem Waldboden. »Das Gebiet beherbergt viele Wasserquellen, die vom Tagebau gefährdet werden«, kritisiert Legolas, der wie alle Aktivist*innen einen Waldnamen benutzt. Er ist wieder bei den Baumhütten ankommen und bereitet die Pressemeldung für die Aktion vor. Lange blonde Haare fallen auf seine Schultern, er lächelt fast ununterbrochen. Der Schüler ist gerade 18 Jahre alt geworden und strahlt einen unerschütterlichen Optimismus aus.
Seit fast einem Jahr engagiert er sich in der Klimabewegung. Er war im Dezember mit dabei, als Aktivist*innen in Ravensburg ein Baumhaus errichteten, das ein Sondereinsatzkommando der Polizei nach 18 Tagen räumte. »Das sorgte für Aufmerksamkeit, viele haben den Einsatz als unangemessen wahrgenommen«, erzählt er. »Dadurch ist unsere Gruppe größer geworden, und wir haben uns dazu entschieden, diese Waldbesetzung zu starten.« Das Camp im »Alti«, wie der Forst liebevoll von den Aktivist*innen genannt wird, ist gerade zwei Monate alt und hat schon für einige Aufmerksamkeit in Süddeutschland gesorgt.
Kiwi kommt aus Bayern und ist seit drei Wochen hier. Die 16-Jährige trägt hellblondes Haar und stahlt mit ihren blauen Augen eine gewisse Ernsthaftigkeit aus. »Mich hat die Zeit im Wald zutiefst verändert«, erzählt sie. »Meine Zukunftspläne wurden auf den Kopf gestellt.« Als Schülerin muss sie am nächsten Tag abreisen; doch sie fürchtet die Rückkehr ins Elternhaus und in die Schule. »Jetzt merke ich, was in der bürgerlichen Welt alles falsch läuft«, meint sie. Bald will sie wiederkommen und dafür kämpfen, dass die Bäume stehen bleiben. Die Fällungen könnten im Herbst stattfinden, wenn die Rodungssaison beginnt. Aber entschieden ist über die Erweiterung der Kiesgruben noch nicht. Noch wird über den Plan des Regionalverbandes Bodensee-Oberschwaben heftig debattiert.
Die Waldbesetzer wollen nicht abwarten, bis es so weit ist, sondern sie wollen in ihrem Baumhausdorf eine Utopie leben: Überall hängen Banner mit dem umkreisten A. »Man hört ja viele Gruselgeschichten über Anarchie, von wegen Chaos und Herrschaft des Stärkeren«, lacht Needle, ein 18-jähriger Schüler aus Ulm. »Aber hier habe ich eine neue Form des Zusammenlebens kennengelernt, die sehr menschlich und friedlich ist.«
Im Camp macht er gerade seine ersten politischen Erfahrungen. »Es sind immer neue Menschen hier am Platz. Man geht trotzdem achtsam miteinander um. Das hat mich fasziniert«, meint er. Alle erzählen hier, es gäbe keine einheitliche Besetzung, sondern nur autonome Menschen, die für eine bestimmte Zeit frei zusammenleben. Anders als bei anderen Waldbesetzungen gibt es im Altdorfer Wald keine festen Versammlungen. »Plena sind eine Form von Repräsentation, also von Herrschaft, und das wollen wir vermeiden, weil dann im Namen von wenigen Anwesenden Entscheidungen für alle getroffen werden«, erläutert Legolas. »Stattdessen sollen hier alle für sich autonom und souverän bestimmen, wie sie ihren Tag verbringen möchten und welche Aufgaben sie übernehmen.« Needle ist darüber erstaunt, wie einwandfrei das klappt: »Das ist fast magisch.«
Nach dem Aufstehen gebe es keinen festen Plan, erzählt Sue. »Ich schließe mich den Aktivitäten an, auf die ich gerade Lust habe. Hier lerne ich, meine Bedürfnisse auszuleben und offen in den Tag zu gehen«, sagt die 23-jährige Deutsch-Iranerin, die in Heidelberg Dolmetschen studiert und für Geflüchtete auf Farsi, Französisch und Englisch übersetzt. Wichtig ist für sie der feministische und antirassistische Konsens der Besetzung. Allerdings ist ihr aufgefallen, dass im Camp nur wenige Menschen mit Migrationshintergrund aktiv sind.
Kiwi erzählt dagegen, dass sie sich im Wald als Frau geradezu ermächtigt fühlt, zum Beispiel beim Bauen: »Ich dachte, dass ich da nur ganz bescheiden mithelfen kann. Aber zwei Aktivisten haben mich bei allem mit einbezogen. Das hatte ich wirklich nicht erwartet, weil ich das von zu Hause nicht kenne: Da wird mir nie die Chance gegeben, was Schweres zu tragen.«
Gemächlich geht es zu im Lager. Ein Feuer brennt, um das sich ein halbes Dutzend Leute zum Frühstück eingefunden hat. »Wir gehen regelmäßig zu den Supermärkten und containern, obwohl wir auch viel Essen geschenkt bekommen«, erzählt Legolas. Kiwi lacht: »Eigentlich wollen wir autonomer werden, aber es ist schön zu sehen, wie sehr uns die Anwohner*innen helfen. Das nehmen wir natürlich gerne an«, erklärt sie. Zweimal am Tag gibt es warmes veganes Essen, Essenszeiten haben sie nicht festgelegt. Die Jugendlichen fühlen sich mit ihrem unkonventionellen Leben als Avantgarde. Mit ihrem entschlossenen Protest wollen sie die Klimabewegung voranbringen.
Gerade befinden sich etwa 15 Aktivist*innen im Camp. »Das ist nicht so viel, erlaubt uns aber, entspannt in den Tag zu gehen«, sagt Legolas. Wenn mehr Leute hier wohnen - vor einer Woche waren es mehr als 50, dann wird das Kochen in die »Barrios« verlagert. So heißen hier die einzelnen unabhängig voneinander organisierten Hüttenansammlungen. Derzeit gibt es vier, ihre Namen klingen eigenartig: »Wable« (für »Wald bleibt«), »Oberacht«, »Dahinten« und »Lost«. In der Regel bestehen sie aus drei bis sechs Baumhäusern, einer Küche und einem Trockenklo. Alle Bauten sind aus Paletten und spendiertem Baumaterial, die mit Seilen befestigt werden, um die Bäume nicht zu beschädigen.
Wie organische Lebenszellen wachsen und verändern sich die Barrios ständig. Je nachdem, welche Menschen darin wohnen. Das Camp »Lost« ist nur für Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund bestimmt, damit sie einen sicheren Rückzugsort haben. »Die Barrios halten wir klein, damit alle Entscheidungen schnell und unkompliziert getroffen werden können. Sie sind unabhängig voneinander, ergänzen sich aber gegenseitig«, erläutert Pollux, der gerade auf der Suche nach dem perfekten Ort für ein neues Tripod durch den Wald läuft. Tripods sind einfache Plattformen auf drei Baumstämmen. »Ein oder zwei Aktivist*innen können damit mehrere Stunden außer Reichweite der Polizei bleiben. Mit einem Dutzend wird die Räumung um fast eine Woche verlangsamt«, erklärt er.
»Black Pearl«, »Bermuda-Dreieck«, »Rojava«. Alle Hütten haben Namen, die eine Geschichte erzählen oder einen Slogan beinhalten. Sie sind rustikal aber gemütlich, wind- und regengeschützt, die meisten verfügen über Fenster und sogar kleine Terrassen. Dank kleiner Akkus gibt es auch Strom und WLAN, damit die Schüler*innen und Studierenden am Distanzunterricht und an Seminaren teilnehmen können. Einige arbeiten auch in der Forstbranche und im Naturschutz. Ihr Wissen und ihr Können sind gefragt. Sie zeigen den anderen, welche Knoten wofür dienen, wie das Abseilen und Hochklettern geht und welche Baumarten es gibt. »Voneinander zu lernen, ist ein zentraler Aspekt des Lebens im Wald, damit alle Menschen an den Aktivitäten teilnehmen können und selbstbewusst werden«, erläutert Bärchen, der ein warmes kanadisches Hemd und eine runde Brille trägt. Er zeigt gerade einer Gruppe von Neuankömmlingen, wie eine Plattform an den Baumstämmen mit Seilen befestigt wird.
Am Sonntagnachmittag herrscht eine entspannte Geschäftigkeit im Camp. Während einige am Lagerfeuer essen und singen, schleppen andere Paletten und Bretter an, um weitere Baumhäuser zu bauen. Viel Besuch kommt vorbei. Manche sind bekannte Gesichter, die Holz und Essen spenden, andere kommen zum ersten Mal. Wer will, bekommt eine Führung. Kinder klettern auf die Baumhäuser, Erwachsene staunen über die Bauten der Jugendlichen. »Ich wünschte, dass ich noch jünger wäre«, lächelt ein älterer Sympathisant, der mit seiner Familie durch das Lager trödelt. Die Waldbesetzung genießt viel Unterstützung unter den Anwohner*innen.
Das Umland von Ravensburg gilt als wohlhabend. Bei der letzten Kommunalwahl triumphierten die Grünen, die zusammen mit der CDU eine Koalition bilden. Noch wird die Erweiterung der Kiesgruben heftig diskutiert. »Bezeichnend ist, dass mindestens ein Drittel des Kieses nach Österreich exportiert wird, weil dort striktere Umweltgesetze herrschen als hier«, kritisiert Roman Muth, Kommunalpolitiker der Grünen aus der Gemeinde Weingarten. »Meine Fraktion versucht, die Waldbesetzung zu unterstützen. Wir finden diese Form des Aktivismus und des Zusammenlebens inspirierend«, meint er während eines Besuchs. Trotzdem haben die Grünen nicht gerade den besten Ruf bei den Besetzer*innen. Viele erinnern sich an die traumatische Räumung des Dannenröder Forsts, die mit einer schwarz-grünen Mehrheit im hessischen Parlament ermöglicht wurde.
Abends am Lagerfeuer werden Geschichten aus dem »Danni« erzählt. Viele waren im November und Dezember dort, als die Baumhäuser zerstört wurden und eine Schneise für den Bau der Autobahn 49 in den Wald geschlagen wurde; durch Matsch und Schnee wurden sie von Polizeihundertschaften geschleift, bis der letzte Baum gefallen war. Die Aktivist*innen reisten ab, aber viele gaben nicht auf, sondern trugen den Widerstand weiter. Überall in der Republik entstehen gerade neue Klimacamps.
Auch in Augsburg ist schon seit Monaten der Rathausplatz besetzt. Dort wollen die Aktivist*innen so lange bleiben, bis die Ziele der Pariser Klimakonferenz von 2015 erfüllt sind. Vier Wochen hat auch Legolas auf dem Platz verbracht. »Dort habe ich mich radikalisiert«, erzählt er. Seitdem will er nicht nur von einer ökologischen und herrschaftsfreien Utopie reden, sondern sie auch ausleben.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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