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Verfassungsschutz: Rechte kapern Corona-Protest
Verfassungsschutz registriert starke Zunahme von Verschwörungserzählungen
Die Unterwanderung der Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie durch die extreme Rechte beschäftigt verstärkt den Berliner Verfassungsschutz. »Vom Rechtsextremismus geht aktuell die größte Bedrohung für die Demokratie aus«, erklärte Innensenator Andreas Geisel (SPD) am Dienstag nach der Senatssitzung, auf der der jährliche Bericht des Geheimdienstes für das Jahr 2020 vorgestellt wurde. Demnach stellen Rechtsextremisten und Neonazis auf den Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zwar keine Mehrheit, sie sind aber deutlich sichtbar zu erkennen und würden nicht ausgeschlossen, hieß es. »Ausnahmslos alle rechtsextremen Gruppierungen suchen den Anschluss an die Corona-Proteste«, sagte Geisel.
Die Beteiligung der extremen Rechten schlägt sich auch in den Zahlen zur politischen Kriminalität nieder: So stieg im Umfeld solcher Aufmärsche die Anzahl von Vorfällen antisemitischer und rassistischer Propaganda an. Auch eine zunehmende Anzahl von Gewaltvorfällen, unter anderem gegen Politikerinnen und Politiker sowie gegen Journalistinnen und Journalisten, wurde festgestellt. »Rechtsextremisten nutzen die Corona-Proteste, um die Demokratie zu schwächen und die Proteste zu radikalisieren«, erklärte Geisel.
Insgesamt geht der Verfassungsschutz in Berlin von einem rechtsextremistischen Personenpotenzial von 1430 (2020) aus, die leichte Zunahme von zehn Personen im Vergleich zum Vorjahr wird mit der Aufnahme von Personen des sogenannten »Flügel« der AfD begründet, der formal aufgelöst worden sein soll. Geisel erklärte: »Flügel-Aktivisten sind zum Teil führend in der AfD aktiv.« Und: Das Flügel-Netzwerk bestehe fort. Zur nd-Nachfrage, ob die gesamte Berliner AfD mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet werde, wollten der Leiter des Berliner Verfassungsschutzes, Michael Fischer, und Innensenator Geisel nichts sagen. »Wir dürfen uns nur äußern zu Phänomenen, die gesichert verfassungsfeindlich sind«, sagte Fischer. »Das Berliner Verfassungsschutzgesetz verbietet uns, dazu öffentlich Stellung zu nehmen«, erklärte Geisel. Die »Berliner Morgenpost« hatte vor Kurzem darüber berichtet, dass die Sicherheitsbehörden die AfD als »Verdachtsfall einer extremistischen Bestrebung« bewerten.
Was die extreme Rechte auch in Berlin eint, sind antisemitische Verschwörungserzählungen. In dem neuen Verfassungsschutzbericht gibt es zu Beginn ein ganzes »Sonderthema« zu Verschwörungserzählungen. »Antisemitismus ist ein Merkmal der Verfassungsfeindlichkeit«, betonte Geisel. Der Innensenator verwies auf die rechtsextremen Terrortaten von Halle und Hanau, wo mit solchen Verschwörungserzählungen Gewalttaten begründet worden seien. »Dass die Akzeptanz von Verschwörungserzählungen wächst, ist ein beunruhigendes Zeichen«, so Geisel. In einem Interview mit »nd« sprach der Innensenator jüngst gar von »Parallelen zur Weimarer Republik, wo auch zu viele Demokraten zu solchen Entwicklungen geschwiegen haben«. Als Konsequenz wertet der Nachrichtendienst inzwischen in Kooperation mit der Polizei auch verstärkt Internetforen und -Plattformen aus, auf denen Verschwörungserzählungen verbreitet werden. Profiteure dieser Entwicklungen sind in Berlin unterdessen auch die sogenannten Reichsbürger, deren »Aktivitätsniveau« sich laut des Geheimdienstes ebenso erhöht hat.
Die Tendenzen, die sich in den Protesten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zeigen, findet unterdessen auch die Berliner Linksfraktion gefährlich. »Die weit verbreitete Ablehnung demokratischer Werte in der Mitte der Gesellschaft ist am bedrohlichsten«, sagt der Innenexperte der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Niklas Schrader, zu dieser Zeitung. Gerade bei den Phänomenen der Verschwörungstheoretiker und Reichsbürger werde dies besonders deutlich. Der Linkspartei-Politiker kritisiert aber auch die Einteilung des Verfassungsschutzes in Extremismus und Nicht-Extremismus. Damit würde der Nachrichtendienst die Gefahr einigen wenigen zuschreiben. »Das verstellt einfach den Blick auf die Wirklichkeit«, betonte Schrader.
Was für extreme Blüten die extremismustheoretische Sichtweise des Geheimdienstes treibt, zeigt sich im Bericht erneut bei den Betrachtungen zur Klimaschutzbewegung. Das Bündnis Ende Gelände etwa wird unter dem Schlagwort »Linksextremismus« in einem Kapitel »Fortgesetzte Instrumentalisierung gesellschaftlich relevanter Themen« verortet, weil die Aktivistinnen und Aktivisten dieselben sein sollen, die bei Gruppe »Interventionistische Linke« mitmachen, die nach Angaben Geisels »kommunistische Zielvorstellungen« verfolge.
Für Schrader diskreditiert der Verfassungsschutz durch die Beobachtung von Ende Gelände oder der Roten Hilfe die Klimabewegung und die organisierte Rechtshilfe. »Das«, so Schrader gegenüber »nd« zum Verfassungsschutz, »zeigt erneut: Er schafft mehr Probleme, als er löst.«
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