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Das schweigende Land

Der Regisseur Enrico Lübbe bringt am Schauspiel Leipzig Lukas Rietzschels Stück »Widerstand« zur Streaming-Uraufführung

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 4 Min.

Lastwagen und Traktoren fahren über die Betonplatten vor dem Haus. Ein dumpfes »Bumm-Bumm«. Tag und Nacht bilden den Rhythmus des Landlebens. Sonst gibt es in dem Dorf wenig, in das Isabell (Teresa Schergaut) zurückkehrt. Nur ein voll automatisierter Kuhstall mit Melkrobotern und Fließbändern wie der Geruch nach Dung, der über der verlassenen Innenstadt hängt, warten auf sie am Ort ihrer Kindheit. Sie ist rechtzeitig geflohen, um Medizin in Leipzig zu studieren. Wer bleibt, hängt irgendwann fest im Niemandsland, wie ihr ehemaliger Mitschüler Sebastian (Denis Grafe), der sich mit Jobs im Dienstleistungssektor über Wasser hält.

Der 1994 in der Lausitz geborene Autor Lukas Rietzschel beschreibt in »Widerstand«, einem Auftragswerk für das Schauspiel Leipzig, die Kluft, die sich seit Isabells Wegzug durch ihre Familie zieht. Als sie unvermittelt im Elternhaus auftaucht, artikuliert sich der Bruch mit der Provinz und der dortigen Aussichtslosigkeit nur im Schweigen zwischen ihr und dem Vater (Tilo Krügel). Worte, um die verlorene Nähe wiederherzustellen, finden sie nicht. Ihre an der Nervenerkrankung ALS leidende Mutter ist schon lange verstummt. Im Familiengefüge markiert sie eine unaufgearbeitete Lücke und bleibt im Theaterfilm körperloser Verweis auf eine vergangene Idylle auf dem Land, die mit dem Abbau der Infrastruktur und zunehmender Überalterung in eine melancholische Ferne rückt.

Wie in seinem Debütroman »Mit der Faust in die Welt schlagen« (2018), der auch von mehreren Theatern für die Bühne adaptiert wurde, zeichnet Rietzschel auch in »Widerstand« in fein gearbeiteten Dialogen ein Bild des Dorflebens und der darin aufkommenden Wut gegen die anderen. Diese richtet sich im Stück gegen den Stadtbewohner, dessen Leben mehr wert sei, »weil er keine beständigen Beziehungen hat, verschiedene Kinder von verschiedenen Partnern, weil er Ausländern begegnet, weil er fleischfrei isst, weil er in irgendwelchen Start-ups arbeitet«. Und gegen die Politik, die sie vergessen zu haben scheint.

Den genau beobachteten Texten setzt der Regisseur und Intendant des Schauspiels Leipzig, Enrico Lübbe, in seiner Inszenierung, die am vergangenen Freitag Premiere hatte, eine karge, affektlose Sprechweise entgegen. Wie ausgestopfte Puppen reden die Figuren nebeneinanderher, wiederholen Phrasen und blicken sich dabei kaum in die Augen oder in die Kamera. Sie erhalten die Fassade einer Familien- und Dorfgemeinschaft aufrecht, die im Inneren längst abgetragen ist. Sogar Physiotherapeutin Peggy (Annett Sawallisch) und Isabells Vater Frank, die eine Affäre haben, bleiben auf Distanz. Statt in Berührung zueinander zu treten, knetet Peggy nur Hackfleisch.

Fröhlich, bunt und aufgeräumt wie die reduzierte Drehbühne, eingerichtet von Hugo Gretler, stehen auch die Kostüme von Teresa Verghos einer US-amerikanischen Sitcom näher als der Garderobe in einem sächsischen Dorf. Der gelungene Bruch mit der Tristesse in Rietzschels Text rückt das Traurige dem Komischen näher, wie sich beides auch in dem Rat verbindet, den Sebastian von Isabell zu Beginn des Stücks einholt. Nach dem Abbau der Bahnstrecke wurden die Holzschwellen im Gleisbett zurückgelassen. Er selbst würde das Holz nur verfeuern, aber für die Städter ließe sich etwas daraus machen. Ein Tisch aus dem wurmstichigen Holz? Gefällt das den Leipziger*innen? »Von dem Plunder haben wir hier doch mehr als genug. Backstein, Lehm, Stroh, Holzbalken, können sie alles haben. Unsere Leute sind ja schon dort, dann können sie auch die Häuser kriegen«, schließt der Zurückgebliebene zynisch.

Das Verschwinden der Infrastruktur verwandelt sich in diesem traurig-komischen Bild in hippe Stadtmöbel. Sebastians Erdulden ist eine Variation des Widerstehens, das Rietzschel in seinem Text aufruft. In dem mehrdeutigen Wort - Widerstehen - kommt auch der aktive Widerstand gegen die Verhältnisse zum Tragen.

An den ereignislosen Abenden planen Frank und sein Nachbar Steffen (Dirk Lange) den reaktionären Aufstand beim Feierabendbier. Als Drohgeste schickten sie einem Politiker eine falsche Waffe, dann besorgt sich Frank eine richtige. »Wenn man jemanden erschießen müsste, dann den Staat. Ich will, dass die in Panik geraten«, sagt er sich. Seine in Foren und den Verhältnissen aufgebaute Wut schlägt um in hilflos strampelnde Gewalt. Dass seine Vorbilder mit Manifesten und Livestreams ungenannt bleiben, lässt dennoch keinen Zweifel dran, um wen es sich handelt. Im Moment, da das Widerstehen zum Widerstand wird, reißt sich auch Isabell aus ihrer Passivität. Kein Mitleid für die um sich greifende Arbeitslosigkeit und kein Verständnis für die Hasstiraden will sie mehr aufbringen, aber da ist der Vater schon fort. »Widerstand« nimmt den Riss, der sich zwischen Stadt und Land entlang der Generationen auftut, in den Blick. Die entfremdeten Figuren finden keine Worte miteinander, die Tochter keinen Weg, ihren Vater mit dessen rechter Position zu konfrontieren. Der Konflikt ist im Umgang mit »querdenkenden« Familienmitgliedern aktuell, nur kann er sich im gedrängten Videoformat nicht recht entfalten. An der Inszenierung überzeugt die Atmosphäre der Trostlosigkeit, aus der der Frust erwächst. Feinfühlig, aber deshalb nicht weniger politisch bestimmt entwickelt Rietzschel in seinem ersten für die Bühne verfassten Werk seine verlorenen Figuren.

Nächste Streaming-Vorstellungen am 18. und 25.5.

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