»Wir hatten Todesangst«

Prozess gegen Neonazis wegen Überfall auf Feier im thüringischen Ballstädt wird neu aufgerollt

  • Kai Budler
  • Lesedauer: 5 Min.

Als die Thüringer Gemeinde Ballstädt im Februar 2014 ihr Kulturhaus in der Mitte des Dorfes wieder für die Öffentlichkeit zugänglich machte, bot sich den Besuchern ein Bild des Schreckens: Blutspuren, zerbrochene Tische, umgeworfene Stühle, eine Spiegelwand lag in Scherben auf dem Boden. Hier hatten wenige Tage zuvor etwa 15 vermummte Neonazis wie ein Rollkommando die geschlossene Veranstaltung der Kirmesgesellschaft gestürmt. Sie prügelten auf jeden ein, der sich ihnen in den Weg stellte, und hörten auch nicht auf, als ihre Opfer am Boden lagen. Die Bilanz: mehr als zehn teils schwer Verletzte, einem Mann wurde durch Schläge sein Ohr halb abgerissen.

In einer Mitteilung der Polizei war kurz darauf von einer Kirmesschlägerei die Rede, »ein Schlag ins Gesicht der Opfer«, sagte damals eine Anwohnerin. Eine Zeugin berichtete: »Wir hörten die Schreie unserer Männer, den Lärm fliegender Tische und Stühle und der berstenden Spiegel und hatten Todesangst.« Schnell wurde klar, dass es sich um einen organisierten Nazi-Überfall handelte, angesichts der Brutalität wurde wohl nur durch Zufall niemand getötet.

Seinen Ausgang nahm der Angriff nur rund hundert Meter entfernt in der alten Bäckerei des Dorfes, die Neonazis seit 2013 nutzen. Wegen ihrer Fassadenfarbe heißt sie unter den etwa 700 Einwohnern von Ballstädt nur »das gelbe Haus«. Schon kurz nach dem Einzug der Neonazis durchsuchten Ermittler des Landeskriminalamtes das Gebäude und beschlagnahmten mehrere Waffen wie ein Sturmgewehr und zwei Maschinenpistolen sowie geringfügige Mengen Drogen. Christoph Lammert von der Mobilen Beratung (mobit) erklärt: »Immer wieder werden die Immobilien zur Vorbereitung und als Ausgangspunkt schwerer Straftaten genutzt, wie auch der brutale Angriff auf die Kirmesgesellschaft in Ballstädt zeigt.« Erst im Februar 2021 wurde die Neonazi-Immobilie im Rahmen von Ermittlungen wegen Drogen- und Waffenhandels sowie Geldwäsche ein weiteres Mal durchsucht. »Dies zeigt erneut die Einbindung der dort wohnenden Neonazis in kriminelle Netzwerke«, so Lammert.

Seit dem Überfall beherrscht die Angst das Dorf. Das einst gegründete Bündnis »Allianz gegen rechts« ist mittlerweile zerbrochen. Schon vor dem Angriff hatte es eindringlich vor den Bewohnern des »Gelben Hauses« gewarnt, doch niemand wollte laut den ehemaligen Mitgliedern zuhören. In einer Stellungnahme aus Ballstädt forderten Bürger nach dem Überfall: »Wer das gemacht hat, muss zur Rechenschaft gezogen werden - dieses Dorf ist stolz auf seine Vielfalt, für rechtsextremistisches Gedankengut ist hier kein Platz.« Am Rand einer Mahnwache zur Wiedereröffnung des Kulturhauses forderte die damalige Bürgermeisterin einen neuen Anfang, sie zeigte sich zuversichtlich, dass die Politik handeln werde.

Doch abgesehen von einer anfangs stärkeren Polizeipräsenz im Dorf blieben konkrete Schritte für ein angstfreies Miteinander ebenso aus, wie lange Zeit auch eine juristische Aufarbeitung des Überfalls. Erst im Dezember 2015 wurde ein Verfahren gegen 15 Tatverdächtige vor dem Landgericht Erfurt eröffnet, etliche von ihnen langjährig aktive Neonazis. Sie mussten sich unter anderem wegen gemeinschaftlicher schwerer Körperverletzung verantworten. Unter starken Sicherheitsvorkehrungen begann einer der größten Neonazi-Prozesse, die in Thüringen je stattgefunden haben.

Das mögliche Strafmaß für die ihnen vorgeworfenen Vergehen beeindruckte die Angeklagten nicht, immer wieder grinsten sie anderen Neonazis im Zuschauerraum zu, führten lockere Gespräche in den Pausen, nutzten ihr Mikrofon für launige Durchsagen im Gerichtssaal oder schliefen einfach ein. Aus ihrer Gesinnung machten sie dabei keinen Hehl: offen getragene Tattoos und einschlägig bekannte Kleidungsstücke sprachen Bände.

Dass damals zusätzliche Verhandlungstage anberaumt werden mussten, ist auch die Schuld des Thüringer Verfassungsschutzes. Die Behörde hatte Telefonate einiger Angeklagter abgehört, darunter auch eine telefonische Verabredung zum Überfall in Ballstädt. Doch ausgewertet wurden die Bänder erst einen Tag nach der Attacke. Dreieinhalb Monate nach der richterlichen Anfrage, diese Daten zu übermitteln, sagte der Verfassungsschutz eine »Prüfung« zu. Mehrere Klagen der Nebenklage-Anwälte bewegten den Geheimdienst dazu, dem Ersuchen zu folgen.

Sven Adam, Anwalt der Nebenklage, sprach »von Respektlosigkeit gegenüber der Justiz«. Seine Kollegin Kristin Pietrzyk erklärte: »Wieder einmal muss sich diese Behörde den berechtigten Vorwurf gefallen lassen, mitzuhelfen, dass rechte Gewalttäter nicht verurteilt werden können.« Insgesamt 44 Verhandlungstage brauchte es, bis das Landgericht Ende Mai 2017 zehn Angeklagte zu Haftstrafen zwischen 26 Monaten und dreieinhalb Jahren verurteilte. Ein Angeklagter erhielt eine Bewährungsstrafe, vier wurden freigesprochen.

Doch die Hoffnung der Betroffenen, nach dem Prozess mit dem Überfall abschließen zu können, zerschlug sich im Mai 2020, als der Bundesgerichtshof im Revisionsverfahren die Urteile kassierte. Die Richter hatten zwar keine Zweifel an der Täterschaft der Verurteilten, sahen jedoch Formfehler in den Schuldsprüchen. Sie verwiesen die Strafsache deshalb zur erneuten Verhandlung zurück an die sechste Strafkammer des Landgerichts Erfurt. Die Opferberatungsstelle ezra kritisierte daraufhin, die Betroffenen müssten nun »die Belastungen eines Gerichtsverfahrens erneut ertragen«. Die Angst vor den Tätern, die zum Teil in direkter Nachbarschaft wohnten, bleibe.

Vor der zweiten Auflage des Prozesses gegen nunmehr elf Angeklagte in einem Saal auf der Erfurter Messe befürchtet Adam: »Die durch schlechtes Handwerk und Verdrängungspolitik des Landgerichts Erfurt verursachte lange Dauer des Verfahrens wird nun voraussichtlich zu Strafmilderungen führen.« Dies wäre laut Anwalt vermeidbar gewesen und offenbare eine Schwäche der Justiz im Umgang mit rechter Gewalt.

Für scharfe Kritik hatte im Vorfeld zudem ein Vorschlag der Staatsanwaltschaft gesorgt, mit einem Deal den anstehenden Prozess abzukürzen. Im ersten Verfahren verhängte Haftstrafen sollen demnach in Bewährungsstrafen umgewandelt werden können, wenn sich die Angeklagten schuldig bekennen. Franz Zobel von ezra sieht darin nicht nur ein »fatales Signal an die Neonaziszene in Thüringen, sondern auch an alle, die von rechter, rassistischer oder antisemitischer Gewalt betroffen sind«. Schon jetzt würden viele Fälle nicht zur Anzeige gebracht, da kein Vertrauen bestehe, dass es Konsequenzen für die Täter gibt.

Kritik kommt auch von der Gruppe »Omas gegen rechts« Erfurt, die die Online Petition »Keine Deals mit Nazis« gestartet hat. Drei Wochen nach dem Start sind knapp 44 500 Unterschriften zusammengekommen, die am Freitag Thüringens Justizminister Dirk Adams (Grüne) übergeben wurden.

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