- Politik
- Kara Tepe
Lage in Flüchtlingslager dramatisch
Geflüchtete aus Kara Tepe wenden sich mit Brief an Öffentlichkeit und warnen vor »Explosion«
Viele Europäer schmieden mit fortschreitender Impfkampagne bereits wieder Urlaubspläne für den Sommer. In den Flüchtlingslagern an den Außengrenzen verschlechtert sich derweil die Lage rapide. In Kara Tepe, dem Nachfolgelager von Moria auf der griechischen Insel Lesbos etwa, ist die Zahl der Corona-Infektionen jüngst stark angestiegen. Laut griechischen Medien wurden unter den rund 7000 Bewohnern alleine an einem einzelnen Tag vergangene Woche 18 neue Corona-Fälle registriert - bei nur 322 vorhandenen Tests. Bis die begehrten Impfstoffe auch hier massenhaft verfügbar sind, wird es wohl noch dauern - laut Medienberichten steht offenbar noch nicht einmal ein Impfstoff für die Schutzsuchenden fest.
Die selbstorganisierten Flüchtlingsgruppen »Moria Corona Awareness Team« und »Moria White Helmets« haben vor diesem Hintergrund erneut einen Offenen Brief an die Öffentlichkeit verfasst. Zuletzt hatten sie sich zu Weihnachten mit einem Schreiben zu Wort gemeldet. In dem aktuellen unter dem Titel »Das ist nicht Disneyland« heißt es: »Wir möchten darauf aufmerksam machen, dass die bedrohliche Covid-19-Situation im Lager nicht vorbei ist, sondern im Gegenteil eskaliert.« Immer mehr Menschen würden positiv auf Corona getestet, mehr als 100 seien in Quarantäne. »Während Griechenland nun seine Grenzen für die Urlaubssaison öffnet, verschlechtert sich unsere Situation im Lager zusehends«, so die Verfasser.
Die Geflüchteten berichten, dass sie seit letztem Jahr aufgrund der Pandemie nur noch an bestimmten Tagen das Lager verlassen dürfen. Deshalb könnten sie etwa keine Angebote von Hilfsorganisationen wahrnehmen und auch nicht einfach in einen Laden einkaufen gehen. »Die gesamte informelle Bildung im Lager wurde bis auf Weiteres ausgesetzt, so dass unsere Kinder keine Möglichkeit haben, etwas zu lernen«, fügen sie hinzu. Die Zelte seien zudem voller Insekten, die Ernährungslage sei schlecht. »Alles in allem sind die Menschen gezwungen, die meiste Zeit innerhalb des Lagerzauns zu verbringen, abhängig von so vielen Dingen, die nicht gut sind.« Viele würden so vergessen, wie das Leben außerhalb des Lagers sei. »Diese Situation verschlimmert die mentalen Gesundheitsprobleme«, fassen sie zusammen.
Die EU hat es selbst in der Hand
Martin Ling über die Folgen falscher Migrations- und Entwicklungspolitik
Die Verfasser kritisieren auch, dass Mitarbeiter von im Lager tätigen Nichtregierungsorganisatinen sich nicht an die Corona-Regen halten würden. Sie seien ohne Maske und ohne Abstand im Camp herumgelaufen, hätten Partys gefeiert, das Gelände ohne vorherige Quarantäne betreten und auch dort übernachtet. »Im Laufe des letzten Jahres haben sie trotz all unserer Warnungen immer wieder gegen die Vorschriften verstoßen«, heißt es in dem Brief. Dies habe auch Auswirkungen auf die Schutzsuchenden: »Das Ergebnis davon ist, dass viele Geflüchtete denken, die Maßnahmen seien nicht wichtig, das Coronavirus gebe es vielleicht gar nicht und Covid-19 sei für sie nicht gefährlich.«
Die Organisationen warnen am Ende des Briefes vor einer erneuten »Explosion«, zu der es aufgrund der Lage im Camp kommen könnte. »Wir versuchen, friedlich zu bleiben und zu kooperieren, aber das geht nur, wenn unsere Lebensbedingungen verbessert werden«, heißt es. Das letzte Mal, als man viele Fälle von Covid-19 im Lager gehabt habe, sei das Lager abgebrannt, was zu einer noch schlimmeren Situation geführt habe.
Marokko macht den Erdoğan
Königreich setzt einseitige Grenzöffnung als Druckmittel gegen Spanien und EU ein
Im September 2020 hatten Brände weite Teile des Ursprungslagers Moria zerstört. Zwei afghanische Jugendliche wurden wegen Brandstiftung verurteilt. Nach Angaben der griechischen Regierung lebten davor rund 12 600 Menschen in Moria - bei einer Kapazität von rund 2800 Plätzen. Immer wieder gab es Proteste gegen die Zustände.
Doch auch im Nachfolgelager, der provisorisch geschaffenen Zeltstadt Kara Tepe, haben sich die Lebensbedingungen nicht verbessert. Erst im Februar hatte sich dort eine hochschwangere Geflüchtete aus Verzweiflung in Brand gesteckt. Sie überlebte, doch nun geht die Staatsanwaltschaft gegen sie wegen Brandstiftung vor. »Die Lage ist besorgniserregend - die Geflüchteten müssen sofort aus dem Lager evakuiert werden«, erklärte die Linke-Abgeordnete Helin Evrim Sommer am Dienstag. Die Situation sei »untragbar«, beklagte die Politikerin.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!